Zunächst einmal muss ich kurz bekannt geben, wie ich an dieses Album gelangt bin. Tatsächlich war es ein Geburtstagsgeschenk meines Onkels, der mit Rockmusik so viel am Hut hatte wie Ted Nugent mit der Friedensbewegung. Aber meine Mutter hatte ihm gesteckt, dass eine meiner Lieblingsbands (oder damals sogar die Nr.1 vor Santana) eben Chicago war, wobei sich diese Zuneigung meinerseits auf die ersten beiden Doppelalben bezog, insbesondere Songs wie 25 or 6 to 4, I‘m a man, Make Me Smile oder Questions 67&68 hatten es mir angetan.
Natürlich erhielt ich die Scheibe (als 1964 geborener) nicht zu meinem achten Geburtstag sondern ich glaube so zum 14. oder 15., was auch einiges darüber aussagt, wie „aktuell“ die Auswahl in unserem örtlichen Plattenladen war (ich wohnte ja in Böblingen und es gab genau 2 Stück davon, wobei der eine davon überhaupt kein System hatte und nur verkaufte, was irgendwo mal vom Laster gefallen war).
Nun aber zum guten Stück, Chicago V. Das erste Mal in der Geschichte der Band eine Single-Album nach drei Doppelalben und dem grandiosen „At Carnegie Hall“-Viererpack.
Und zum ersten Mal bei Chicago auch so etwas wie eine richtige Hitsingle mit Saturday In The Park, die immerhin Platz 3 der Charts erreichte. Beim ersten Hören vielleicht gar nicht mal so spektakulär, ist das Album in meinen Ohren mit der Zeit gewachsen und wird von mir auch heute noch gerne gehört, nicht nur aus nostalgischen Gründen (zeitlos nennt man das dann wohl). Das liegt natürlich vor allem an den tollen Kompositionen von Robert Lamm, der hier 8 der 10 Songs zu verantworten hat. Nicht umsonst ist der Mann Mitglied der Hall Of Fame für Songwriter und diese Scheibe ist sein Referenzwerk.
Los geht es mit A Hit By Varese, eine – man ahnt es schon – Verbeugung vor dem französischen Kmponisten Edgar Varese, der ja zum Beispiel auch von Frank Zappa glühend bewundert wurde. Das durchaus komplexe Stück zeigt die Brasskompetenz der Band und punktet mit jazzigen Momenten. All Is Well wird von Peter Cetera gesungen und geht schon in die etwas konventionellere Richtung des AOR. Now That You’re Gone, der kompositorische Beitrag von James Pankow, beginnt mit lebhaften Rhythmen von Danny Seraphine und mündet in etwas zwischen Walzer und Funk, mit einem starken Saxophonsolo von Walter Parazaider.
Für viele der Höhepunkt des Albums ist das zweigeteilte Dialogue, quasi ein Aufeinandertreffen der Vergangenheit (Terry Kath) und der Zukunft (Peter Cetera) der Band. Hier der wilde, ungezähmte, tief in den 60er verhangene Kath mit seiner raspeligem Stimme und seinem grandiosen, einem Jimi Hendrix in Sachen Innovation nicht nachstehenden Gitarrenspiel und hier Cetera als Kind der 70er, ein fabelhafter Bassist (was oftmals zu kurz kommt), aber eben auch ein harmoniesüchtiger Melodiker. Das Solo von Kath im zweiten Teil ist Extraklasse.
Auch bei While the City Sleeps, einem zwischen Blues und Soul mäandernden Rocker, stiehlt Terry Kath mit seinem Solospot die Show. Danach kommt dann schon der erwähnte Chartbreaker Saturday In The Park, das einen sonnigen Ausflug am vierten Juli beschreibt. Natürlich oft gehört, aber immer noch um Welten erträglicher als spätere Schmachtfetzen wie If You Leve Me Now, Hard To Say I’m Sorry oder gar You’re The Inspiration.
Anschließend gibt es den relativ straighten Funk Rocker State Of The Union mit einem schönen Dizzy-Gillespie-Gedächtnis-Trompetensolo von Lee Loughnane, gefolgt vom eher gemäßigten, softeren Brass Rock in Goodbye, der dennoch ein paar interessante Wendungen bietet.
Zum Abschluss gibt es das entspannt-akustische Alma Mater, geschrieben und gesungen von Terry Kath.
Wie schon zu vermuten, für mich das letzte große Album dieser Band, im Übrigen auch das letzte ohne einen Song von Peter Cetera (der Zusammenhang ist ziemlich greifbar), der ja in der Folgezeit die Band in seichtere, wenngleich unendlich einträglichere Fahrwasser führte – wohl auch zur Freude von Columbia Records. Spätestens der tragische Tod von Terry Kath im Jahr 1978 besiegelte irgendwie endgültig das Kapitel Chicago, auch wenn die Band bis heute aktiv die Fahne des Brass Rock hochhält und auch noch einige lichte Momente in späteren Werken hatte. Aber die Magie war verflogen.
Audio-Video “A Hit by Varese”: https://www.youtube.com/watch?v=6aoKb_v1XSc
Audio-Video “Dialogue Part 1&2”: https://www.youtube.com/watch?v=80s3warB_c0
Full Album: https://www.youtube.com/watch?v=s9Zasa2ks60
Chicago
V, Columbia, 1972
Peter Cetera Vocals & Bass
Terry Kath Guitar & Vocals
Robert Lamm Keyboards & Vocals
Lee Loughnane Trumpet, Flugelhorn, Percussion & Backing Vocals
James Pankow Trombone, Percussion, Backing Vocals & Brass Arrangements
Walter Parazaider Saxophone, Flute, Percussion & Backing Vocals
Danny Seraphine Drums & Percussion
Spieldauer:45:07 Minuten
01. A Hit by Varese
02. All Is Well
03. Now That You’ve Gone
04. Dialogue
05. Dialogue (Pt. II)
06. While The City Sleeps
07. Saturday In The Park
08. State Of The Union
09. Goodbye
10. Alma Mater