Ein schönes Thema und dieses Forum bringen mich noch um den Verstand - andauernd ist hier etwas zu entdecken, zu dem ich meinen Senf geben könnte, nun sehe ich hier etwas über Free Jazz und da möchte ich doch, wie gesagt, Senf und so:
Erste Live- Begegnung in einem Konzert in Radebeul bei Dresden war 1973 oder so - "Synopsis" die DDR Band mit Günter "Baby" Sommer, Ernst-Ludwig Petrowsky, Conrad Bauer und Ulrich Gumpert. Da war ich 18 Jahre jung. Empfunden haben wir / ich damals diese Musik als etwas völlig neues, von den alten Strukturen losgelöstes. Angenommen haben wir sie aber auch als etwas völlig normales, als völlig normale Musik, zumal sie auch live zu erleben war. Auch wenn man noch etwas von der so genannten "Kaputtspielphase" mitbekam (die im Westen viel früher einsetzte und aufhörte, dem Osthörer mangels Möglichkeiten aber nicht so zugänglich war), also nur freies Spiel, (kein Rhythmus, keine Melodien), Atonalität pur etc., hatte diese Musik ihren absoluten Reiz, zumal Rockmusik so um 1974 langweilig zu werden schien bzw. Discomusik der große Renner wurde, was man natürlich kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm. (Per Radio gab es wenig, sehr wenig zu hören, und man muss bedenken, dass der private Import von LPs aus Richtung Westen per Postpäckchen oder als Mitbringsel/Geschenk verboten war. Manchmal klappte es, aber meistens war der Zoll siegreich). In der nicht nur geographisch kleinen DDR, die auch zudem geistig und kulturell klein war, zumindest bei denen, die sich Kraft ihres Resthirnes dazu, natürlich immer im Namen der Arbeiterklasse und des zu rettenden Weltfriedens, berufen fühlten, stellte diese Musik eine Ausnahme dar. Unterhaltungsmusik, Schlager und Dixieland gab es natürlich. Da durfte das Volk bierselig sein und abschalten vom Kampf. Free Jazz oder Rockmusik - bis beides vereinnahmt wurde oder zumindest der Versuch mehr oder weniger erfolgreich unternommen wurde - war suspekt. Die Protagonisten waren oft langhaarig, tranken oft und viel und vom Erscheinungsbild her passten sie nicht in die gepflegte, langweilige, graue, realsozialistische Umgebung. Diese Attribute trafen auf Musiker wie Publikum zu. Auch dies machte die Musik interessant: Nicht nur ihr Anderssein, nicht nur die neuen Klangvorstellungen und deren Ausführungen. In der DDR war diese Musik auch gleichzeitig ein Politikum. Langhaarig auf dem Boden liegen und Free Jazz zu hören war schon halb Widerstand! In dieser Zeit erlebte ich einige der besten europäischen (Free) Jazzmusiker, vornehmlich zur "Jazzwerkstatt" in Peitz, in Berlin bei "Jazz in der Kammer", im Jazzclub Glauchau, in Freiberg, und, und, und…
Hier sind nun Namen fällig, d.h. ich "kenne" die folgenden Musiker, habe sie damals und im Laufe der Jahre immer und immer wieder gehört. Nicht alle möchte ich dem betreffenden Free Jazz Bereich zuordnen; Schubladen sind sowieso Quatsch. Meistens.
Günter "Baby" Sommer (dr), Ernst-Ludwig Petrowsky (sax), Conny Bauer (tb), Ulrich Gumpert (p), Manfred "Catcher" Schulze (sax), Friedhelm Schönfeld (sax), Hubert Katzenbeier (tb), Hans-Joachim Graswurm (tp), Manfred Hering (sax), Hermann Keller (p),
Klaus Koch (b), Hermann Anders (tb), Johannes Bauer (tb), Helmut "Joe" Sachse, Uwe Kropinski (g), Andreas Altenfelder (tp)………
Das waren und sind die Ikonen des DDR Jazz. Den Rock/Jazz/Fusion Bereich habe ich mal ausgespart. Alle Musiker sind nicht genannt. Gedächtnislücken.
Die Jazzwerkstatt Peitz (dort habe ich die meisten der Musiker gehört) brachte internationales Flair in das kleine Kino des Ortes und zum Open Air auf die Freilichtbühne und in die größte DDR der Welt:
Gunter Hampel (bcl), Perry Robinson (cl) Jeanne Lee (voc), Lauren Newton (voc), Harry Miller (b), Peter Brötzmann (sax), Radu Malfatti (tb), Han Bennink (dr), Evan Parker (sax), Peter Kowald (b), John Tchicai (sax), Derek Bailey (g), David Moss (perc), Fred Van Hove (p), Misha Mengelberg (p), Lol Coxhill (sax), Albert Mangelsdorff (tb), Michel Portal (cl), Gianluigi Trovesi (sax), Tomasz Stanko (tp) Adam Makowicz (p), Edvard Vesala (dr), Triluk Gurtu (perc), Toto Blanke (g), Aladar Pege (b), Willem Breuker (sax), Phil Wachsmann (vio), Manfred Schoof (flhorn), Günter Christmann (b), Alexander von Schlippenbach (p), Steve Lacy (ss), Tony Oxley (dr), Paul Lovens (dr), Paul Lytton (dr), Sven Ake Johansson (dr), Barry Guy (b), Leo Smith (tp), Lester Bowie (tp), dito das AEOC, Krzysztof Zgraja (fl), Jacek Bednarek (b), Ganelin Trio, Detlef Schönenberg (dr), Hans Koller (sax), Herbert Joos ( tp, flh), Gerd Dudek (sax), Buschi Niebergall (b)……..
Auch hier sind nicht alle Musiker genannt. Gedächtnislücken.
Gelehrt hat mich diese Musik, dieser "Free Jazz": zuhören! Dies brachte vor allem eine Horizonterweiterung, man fuhr nicht mehr so eingleisig, man interessierte sich für artverwandtes, auch andere Musikstile, Richtungen etc.
Und was man nicht glauben wird oder kann: auch dieser freie Jazz besaß oder besitzt ein Wesensmerkmal des Jazz: Swing! Nicht im herkömmlichen Sinne; die Schwingungen bauen sich anders auf, sind breiter angelegt und teilen sich nicht gleich nach vier Takten mit. Aber sie sind da.
Im Laufe der Jahre änderte sich natürlich die Spielweise des Free Jazz, nicht nur dass er kaum noch so genannt wird, es wurden auch wieder Melodien gespielt, Rhythmus erlaubte man sich, Themen, Verarbeitung von Volksmusikthemen usw. Auf alle Fälle waren diese Hörerfahrungen der Schlüssel für ein weites Verständnis von Musik unterschiedlichster Richtungen.
Literaturempfehlungen:
Bert Noglik: "Klangspuren - Wege improvisierter Musik" Verlag Neue Musik, Berlin 1990
"Jazzwerkstatt International" Verlag Neue Musik, Berlin 1981
Ekkehard Jost: "Europas Jazz 1960 - 1980" Fischer 1987
Radiot grüßt! :8)