Never Ending Story

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badMoon
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Never Ending Story

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Gepostet: 11.10.2022 - 15:19 Uhr  ·  #1
Worum geht es? Siehe ---> hier
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Paul

Gedankenverloren nimmt Paul einen weiteren Teller aus dem Spülwasser. Bürstet ihn ab, stellt ihn in das Abtropfgestell. Das Radio lief, irgendeine Nachricht über die Energiekrise. Eigentlich war es ein schöner und geselliger Abend. Wenn SIE nicht wäre. Er, Paul, hat das komplette Essen für den Besuch - immerhin 10 Personen - liebevoll zubereitet. Den Tisch eingedeckt, Servietten gefaltet, kleine, dekorative Schilder mit den Namen der Gäste auf die Platzteller gestellt. Bis die Vorspeisen verspeist waren, ging alles gut. Dann fing SIE, wie so oft, über ihn zu lästern an. Ließ kein gutes Haar an ihm. Er würde die Wohnung kaum aufräumen. Die Katzen vernachlässigen. Habe keine Ahnung vom Kochen und vom Sex schon gar nicht. Einige der Gäste schauten betreten auf ihre Teller, andere stimmten, lachend über IHRE abfälligen Bemerkungen, in den beleidigenden Reigen ein. Gerade stellte er einen weiteren Teller in das Abtropfgestell und zog gedankenverloren eine Gabel aus dem Spülbecken.

Wie aus weiter Ferne vernahm er IHRE Stimme, die meckernd von sich gab, er solle sich doch ein wenig beeilen, die lauten Geräusche störten sie beim Fernsehen. Während er gerade aufnahm, was SIE sagte, reichte SIE ihm, ihn verächtlich grinsend ansehend, ein vom Wein verschmutztes Glas zum weiteren spülen an.

Es war wohl ihr Pech, dass sie einmal zuviel spottete, einmal zuviel grinste, einmal zuviel verächtlich blickte, als er gerade zufällig eine Gabel in der Hand hielt, die einen Moment später in ihrem Hals steckte. Das Blut sprudelte aus der Wunde, ihr Mund zu einem stillen Schrei geöffnet, die Augen weit aufgerissen. Gerade, als ein weiterer Blutschwall sein Hemd besudelte, stürzte sie zu Boden. Lag da wie ein frisch geschlachteter Walfisch, die Augen glotzten leer zur blitzblank geputzten Deckenlampe. Mit einem letzten Zischen atmete sie aus, dann war es völlig still.

Paul war ganz ruhig. Dachte noch kurz "da guckste, wa?", zog die Jacke an, setzte seine Mütze auf, nahm sein Portemonnaie aus der Schublade. Vernahm gerade noch, als er zur Türklinke griff, um auszutreten und im gegenüber liegenden Pub ein Bier zu trinken, die letzten Verse des Songs 50 Ways to Leave Your Lover. "Passt", dachte er, und trat auf die Straße.
Mr. Upduff
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 11.10.2022 - 16:00 Uhr  ·  #2
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Roland saß allein wie jeden Abend in seinem Wohnwagen. "Künstlerpech" dachte er wie so oft. Okay, die Bezahlung war gut. Aber er steckte schon seit langer Zeit in dieser Alleinseinschleife. Eine SIE gab es schon ewig nicht mehr für ihn. Er lachte und dachte "na ja wenigstens keine die über ihn meckert. Hat ja auch was für sich.". Und was sich die Drehbuchfuzzis so dauernd ausdenken. Zum Glück ist er ja aus dieser Nummer bald raus. Die Nadel in seinem Kopf spielte wie so oft Take The Money And Run.
Floyd Pink
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 11.10.2022 - 16:58 Uhr  ·  #3
Plötzlich hörte Roland ein Geräusch vor seinem Wohnwagen: erst ein Stöhnen, dann ein Ächzen und schließlich, als ob jemand etwas Schweres hinter sich her schleift. Er schaute also aus dem Wohnwagenfenster und traute seinen Augen kaum: Paul, den er von gelegentlichen Kneipenbesuchen flüchtig kannte und der ihm schon öfter beim vierten Bier sein Beziehungsleid geklagt hatte, torkelte mühsam auf den Wohnwagen zu. Dabei zog er ein derangiertes, kaum mehr als weibliche Gestalt zu erkennendes Etwas hinter sich her, das sich in seinen Hals verbissen hatte. Er zückte sein Smartphone, um den bizarren Anblick festzuhalten, denn das glaubte ihm doch sonst niemand. Liar würden sie zu ihm nur sagen, wenn er ihnen diese Story verkaufen wollte.
Er überlegte noch, wie er ihnen das ganze schmackhaft machen wollte, da öffnete Paul – oder was noch von ihm übrig war – die Tür zum Wohnwagen...
firebyrd
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 11.10.2022 - 17:49 Uhr  ·  #4
Gleichzeitig klingelte das Telefon. Eigentlich war Roland einer Jener, die sich vom schrillen Klang dieses Störenfriedes nicht ablenken ließen und es einfach ignorierten. Doch hatte er gerade noch über die Drehbuchfuzzis nachgedacht, so ließ ein Blick aus das Display des Nervtöters erkennen, dass es genau einer jener Fuzzis war. Der Zombie in der Tür musste also noch kurz warten.

Denn angesichts dessen, dass man schließlich gut zahlte, ließ er sich dazu herab, den Anruf entgegen zu nehmen. "Hier Fritz Lang, guten Abend!", schallte es dem Roland entgegen. Unwillkürlich musste er beim Namen des Anrufers an "Metropolis" oder "M - eine Stadt sucht einen Mörder" denken, doch eine solche Koryphäe war dieser Lang mit Sicherheit nicht.

Roland fühlte sich unter Druck gesetzt, denn Lang verlangte von ihm, er möge die Geschichte um Paul bitte fortführen, man wolle doch schließlich ein wenig Spannung erzeugen. War die ungeliebte Gattin nun tot oder nicht? Einen Namen habe sie doch auch noch nicht. Wenn es weiter so lasch weiterginge, müsse man über die an sich gute Bezahlung doch noch einmal nachdenken.

"OK, geht klar", erwiderte Roland, und dachte sich, "I don't care" und legte dazu diesen Song von Buck Owens & His Buckaroos auf, denn eigentlich war ihm alles wirklich egal.....

Und die Fortsetzung der Story hatte ihm der Hauptdarsteller ja bereits abgenommen, stand er doch nun leibhaftig in der Tür! (oder war es nur eine Erscheinung und eine Fleischwerdung seiner Fantasie????)
Mr. Upduff
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 11.10.2022 - 19:08 Uhr  ·  #5
Take the Whiskey and stay. Jeden Abend diese gleichen Lieder. War wohl gestern am Abend wieder ein bisschen zu viel davon.

"Mein abgehalftertes Schrottleben lässt sich nur noch durch das Schauspielern und das Saufen ertragen". Immer mehr machen sich die Figuren in seinem Kopf selbstständig. Nun auch noch Lang und Beisser. "So langsam werde ich wohl irre" gähnte er vor sich hin.

Nach einer Aufwachddusche entschied Roland, daß er diesen Job endgültig hinschmeißt. "Ich mache mich doch nicht zum Affen dieser Drehbuch- und Filmfuzzis."

"Der Paul soll seine Gabel doch sonst wohin stecken. Hauptsache nicht in meinen Kopf".

Die werden diese Soap-Opera schon so hinbiegen, daß sie auch ohne Paul klarkommen. Und wenn den Trotteln nichts einfällt sollen sie doch einfach bei der nächsten Sendung Paul is dead spielen. Diesen chipsfressenden Zuschauerzombies ist das doch eh egal.
badMoon
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 11.10.2022 - 20:43 Uhr  ·  #6
Irmi sitzt in ihrer kleinen Verwaltungsbude und sinniert stur vor sich hin. Als Campingplatzbetreiberin hat sie es wahrlich nicht leicht. Kümmert sich um alles, was anfällt. Sorgt für eine saubere Sanitäranlage, kümmert sich um den Verkaufsstand, nimmt Buchungen vor, kurz - als Chefin ist sie hier auch gleichzeitig Mädchen für alles.

Die hohe Pacht für den Campingplatz konnte sie in den letzten Jahren gut aufbringen. Erst in den letzten beiden Jahren fingen die finanziellen Probleme an. Zuerst Corona, dann der Krieg in der Ukraine, und die Staatsführung weiß vor lauter "Hott und Hü" wohl auch nicht, wie die Probleme zu lösen sind.

Und jetzt wird sie auch noch seit Monaten von Roland vertröstet. "Nächste Woche bekommst Du Dein Geld", den Spruch hört sie schon seit Wochen. Aber Geld ist keines zu sehen.

Nachdem sie ihr Glas Mariacron leergetrunken hat, greift sie zum Benzinkanister.

"Warte nur, Du nichtskönnender, zweitklassiger Schauspielermöchtegernkünstler. Deine blöden Sprüche hab' ich satt. Und die Damenbesuche dieser halbklassigen, fetten, ungepflegten Möchtegernmodels schon lange. Weiß der Teufel, wer Dich da gerade wieder besucht. Euch mach' ich Feuer unterm Hintern. Den Zaster von der Versicherung kann ich gut brauchen. Man muss das nur clever genug anstellen, dann raffen diese Versicherungsfuzzies nichts. Warme Sanierung, sozusagen. Und um Dich Nichtsnutz ist es sowieso nicht schade"

Gedacht, getan. Mit dem schweren Benzinkanister in ihrer feisten Hand torkelt sie, leicht mariacronbenebelt, aus ihrer Bude. Spinzt nach links und rechts und stellt erleichtert fest, dass die Luft rein ist. "Noch", dachte sie, "das wird sich gleich ändern".

Langsam näherte sich Irmi Rolands Wohnwagen. Durch den leichten Nebel war zwar keine klare Sicht möglich, jedoch konnte sie noch erkennen, dass zwei offensichtlich dubiose Gestalten gerade die Tür öffneten und auf der Schwelle stehen blieben. "Wahrscheinlich schon wieder Damengesellschaft", schoss es ihr durch den Kopf, und schon verschwanden die beiden Gestalten im Wohnwagen.

Keuchend erreichte Irmi ihr Ziel. Seltsame, röchelnde Geräusche drangen hinaus, die ihr eine heftige Gänsehaut verursachten. "Jetzt schnell, nicht lange überlegen", ging es ihr durch den Kopf. So schnell es ihr möglich war, verspritzte sie den Inhalt des Benzinkanisters rund um den Wohnwagen. Um alle versicherungstechnisch ungünstigen Beweise zu vernichten, schob sie noch schnell den Kanister darunter. Zog ihren Zipper aus der Tasche, klappte den Verschluss hoch. Heftig drehte sie an dem Rädchen, der die nötigen Funken erzeugen sollte. Die Funken blieben aus, gleichzeitig verstummten innen die Geräusche. Eine unheimliche Stille entstand, ehe sich leise knarrend die Tür öffnete. Irmi drehte wie wahnsinnig weiter an dem Rädchen, während sie in das blutverschmierte Gesicht eines Mannes mit einer Gabel in der Hand starrte.

Irmi konnte noch eben einen Blick auf den am Boden liegenden Roland erhaschen, bevor sich das Feuerzeug entzündete. Seltsamerweise hatte sich wohl eine der käuflichen Damen in seinen Hals verbissen. "Seltsame Praktiken", ging es ihr noch durch den Kopf. Während all dieser Wahrnehmungen und Gedanken, die in sekundenschnelle durch ihren Kopf rasten, warf sie das Feuerzeug hektisch, mitten in ihrer Fluchtbewegung auf den Boden. Unvermittelt breitete sich das Feuer rund um den Wohnwagen aus. Irmi, mit vor Angst irre verzerrtem Gesicht, kam gerade an ihrem Verwaltungsbüdchen an, als im Innern des Wohnwagens eine heftige Explosion diesen hoch in die Luft schleuderte. Sie erschauderte, nahm jedoch noch aus den Augenwinkeln wahr, wie eine wild lachende Person sich vom gerade landenden Wohnwagen in Richtung des nahe liegenden Waldes, der ein paar Hundert Meter hinter den Bahngleisen liegt, davonmachte.

Mitten in diesem Geschehen fuhr, kurz vor dem naheliegenden Bahnhof, sachte bremsend ein Zug vorbei. Horst und Iris, die auf dem Weg zu einer kleinen Städtetour waren, blickten aus dem Fenster und sahen vor dem auf dem Boden landenden, brennenden Etwas eine Gestalt auf den Zug zulaufen. Horst hatte den Kopfhörer seines Walkman übergestülpt und hörte nichts außer A Forest, dem Song irgendeiner New Wave-Band.

Am nächsten Morgen war ein Fritz Lang sehr verwundert, dass sich am anderen Ende des Telefons nichts mehr tat. Auch nach dem siebten Versuch - kein Freizeichen, nichts. Er wird sich wohl auf den Weg machen müssen. An Rolands Unzuverlässigkeiten hatte er sich bereits gewöhnt. Diese absolute Stille jedoch kannte er bislang nicht.
caramel
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 12.10.2022 - 16:21 Uhr  ·  #7
So trafen am späten Vormittag Friedrich "Fritz" Lang und der Versicherungsvertreter gleichzeitig auf dem Campingplatz ein. Der nach dem Brand eingetroffenen Polizei war die ganze Geschichte auf Anhieb seltsam vorgekommen. War doch Roland als irrer, hoch verschuldeter Psychopath bekannt, der nicht selten unter Halluzinationen litt. Nun war er selbst ums Leben gekommen, aber wie? Bei dem Versuch, seinen eigenen Wohnwagen abzufackeln? Oder war die zweite gefundene Leiche, eine noch unbekannte Frau, die Täterin? Oder kam der Täter aus dem Zockermilieu? Denn Roland war nicht nur fürs Saufen, sondern auch für seine Spielleidenschaft in dubiosen Hinterzimmern bekannt.

Während der Versicherungsvertreter mit der ebenfalls anwesenden Polizei sprach, die Unglücksstelle inspizierte und sich diverse Fakten notierte - es war zum Beispiel ein Benzinkanister in der Nähe des Wohnwagens gefunden worden - machte sich Fritz Lang in gebührendem Abstand zur Polizei an die Campingplatzbesitzerin Irmi ran. Die staunte nicht schlecht, war doch Fritz Lang gar kein Regisseur. Roland hatte erst vor 2 Tagen ihr gegenüber behauptet, er würde mit Fritz Lang einen Film über einen Zombie namens Paul drehen. Dies stellte sich nun, nachdem Lang sich ihr vorgestellt hatte, als eine weitere spinnerte Geschichte Rolands heraus.
"Hallo, ich bin der Friedrich, Friedrich Lang, wollte meinen Freund Roland besuchen. Was ist denn hier passiert? Ich bin total geschockt. Er war erst gestern mit einigen Kumpels zum Pokern bei mir in der Kneipe, natürlich alles ganz legal, keine hohen Einsätze. Und jetzt das hier. Verdammter Mist!"

Die sichtlich nervöse Irmi war immer noch kaum in der Lage zu antworten. Die Fragen der Polizei hatten sie völlig aus der Bahn geworfen. "Ich, ich, ich kann Ihnen auch nicht viel sagen, Herr Lang. Falls Sie Spielschulden eintreiben wollten, das können Sie jetzt wohl knicken."

"Äh, aber wie kommen Sie denn darauf? Nein, ich wollte einfach nur meinen Freund besuchen. Das ist voll krass. Ich bin ja so geschockt. Mach‘s gut, alter Kumpel" setzte er noch scheinheilig hinzu, verabschiedete sich von Irmi und ging dann in Richtung seiner roten Corvette. Mit durchdrehenden Reifen und einer gehörigen Wolke machte er sich aus dem Staub. Aus seiner First-Class-HiFi Anlage Marke Bang & Olufsen dröhnte glasklar Manfred Mann's Earth Band mit Angels at my Gate.

Unterdessen war Paul durch den Wald immer entlang der Bahngleise geflüchtet.
firebyrd
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 13.10.2022 - 12:11 Uhr  ·  #8
Schweißgebadet erwachte SIE aus ihrem Albtraum. Gedanken schossen ihr durch den Kopf. War das alles wirklich nur ein Traum oder düstere Realität. Irgendwie befand SIE sich noch in einem Stadium zwischen Traum und der Wirklichkeit. Selbst an ihren Namen erinnerte sie sich nicht mehr. "Hallo, Pauline", rief ein Typ, den sie erst gar nicht erkannte. "Ach, ich Pauline, dann bist Du der Paul!", versuchte sie ihren zeitweiligen Gedächtnisverlust scherzhaft zu überbrücken.

Dabei kam ihr der Gedanke, dass sie ihm Grunde genommen Einiges davon, was sie geträumt hatte, durchaus in die reale Welt, in ihren Alltag, den gemeinsamen Alltag mit Paul, projizieren könnte. Das wiederum gab ihr einen Anstoß, die gesamte häusliche Situation doch noch einmal zu überdenken. Hätte Paul sie, wie im Traum, tatsächlich auf diese Weise umbringen wollen? Oder war es eigentlich ihr ureigenes Verlangen, es ihm anzutun? Dazu passte ihr spontaner Gedanke, sich eine CD anzuhören, die "Murder Ballads" von Nick Cave & The Bad Seeds, und schon bald schallte das eindringliche "Where the Wild Roses Grow" durch den Raum.
badMoon
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 13.10.2022 - 16:39 Uhr  ·  #9
"Hallo Pauline", vernahm SIE, Pauline, noch leicht benebelt und in wirren Gedanken versunken. Ich muss wohl eingenickt sein. Was für ein fürchterlicher Traum. Es wird Zeit, mit IHM zu reden, so ihre noch nicht ganz wachen Gedanken, während "Where the Wild Roses Grow" aus den Lautsprechern schallte.

Paul baute sich Kaugummi kauend vor ihr auf. Komisch sieht er aus, dachte sie. Enge Hose mit weitem Schlag. Tailliertes Hemd, weiß mit Pailletten, fast bis zum Bauchnabel aufgeknöpft. Ein fieses Goldkettchen baumelte zwischen seinen fussen Brusthaaren. Was soll das denn bloß schon wieder?

Erst sah er sie einige Sekunden stumm an, um sie dann anzufahren. "Ich weiß zwar nicht, was das für grunzende Geräusche waren, die Du da mitten im Schlaf abgelassen hast. Aber ich weiß, dass wir in 40 Minuten bei dem Oldie-Abend mit Livebands sein wollen. Wir sind verabredet, schon vergessen? Typisch, wie immer. Also, steh hier nicht so dumm herum, mach Dich fertig und komm in die Puschen."

Ein Schrecken fuhr ihr in die Glieder. Jetzt schnell, Pauline wusste, was sie erwarten würde, wenn sie nicht rechtzeitig fertig sein sollte. Eine halbe Stunde blieb ihr, zum Dorfsaal ging man gerade 10 Minuten.

Kurz nach 20 Uhr kamen Paul und Pauline im "Hotel zur Flotten Biene" an. Der Festsaal war schon reichlich gefüllt, Biergeruch lag in der Luft. Aus den riesigen Lautsprechertürmen dröhnten bereits laut vernehmlich allseits bekannte Discorhythmen. An einem langen Biertisch entdeckten sie ihre Freunde, mit denen sie verabredet waren.Pauline grüßte leicht verschüchtert. Paul haute seinem Kumpel Alfred generös auf die Schulter, während er ihr, Ulrike, mit den Worten "stramme Hupen" unverhohlen und unverschämt lange in ihren weit geöffneten Ausschnitt stierte.

Paul war kein Freund vieler Worte. Er spuckte seinen Kaugummi in die Hand, klebte ihn unter den Biertisch, griff mit seinen noch klebrigen Fingern Ulrikes Hand und zog sie von ihrem Platz. Komm tanzen, sagte er und zog sie hinter sich her.

Auf der Bühne mühte sich gerade eine fast lächerlich wirkende Band. Die Typen mussten schon um die 70 sein, dachte Paul. Komische Gestalten. Einer mit Indianerhaube, ein anderer machte in viel zu engen Lederklamotten auf Biker, der andere Typ in kariertem Hemd mit Bauarbeiterhelm verrenkte sich in grotesk anzuschauenden Tanzschritten. Den Text zum Playback schien die Kapelle auch vergessen zu haben. Zeitversetzt bewegten sie ihre Lippen, während das oldieverliebte Publikum zu Macho Man abzappelte. Ulrike himmelte Paul an, und Paul verschaffte sich mit wilden Tanzeinlagen Platz um sich herum.
Floyd Pink
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 14.10.2022 - 15:52 Uhr  ·  #10
Selber schuld, dachte sich Karl-Heinz Spitzname Kalli, hätteste was Ordentliches gelernt, müsste jetzt deine karge Rente nicht als Feierabendmucker aufbessern. Dabei hatte er noch während seines Psychologiestudiums getönt, die schlimmsten drei Erfindungen der Menschheit sind alkoholfreies Bier, das Billyregal und Coverbands. Das Studium verlief aber ebenso im Sande wie die Karriere als Musiker, reichte gerade mal für ein bisschen Unterricht für talentfreie Jünglinge mit Akne und Zahnspange. Ansonsten Spanplatten sortieren im Baumarkt, bis irgendwann der Rücken streikte. Deshalb muss ich hier jetzt auf Häuptling gespaltene Zunge machen.
Naja, immer noch besser als Manni, der sich als Bauarbeiter die Arthrose aus den Gräten schütteln muss oder Günni, dem von den Bikerhosen die Klöten nach innen wachsen.

Moment mal, dachte sich Kalli, wer täuscht denn da im allgemeinen Gehampel Tanzbewegungen vor? Das ist doch die Ulrike, zu ihrer stürmischen Zeit – die auch schon ein paar Jährchen hinter ihr lagen – der Wanderpokal von Dülmen genannt wurde, da sei mit jedem, naja. Und der abgehalfterte Typ neben ihr, der sich benimmt wie ein wildgewordener Gorilla mit Juckpulver im Fell, kam ihm auch irgendwie bekannt vor. Das war jedenfalls nicht Ulrikes Macker, der versoffene Harry, dem Kalli auch noch etwas Geld schuldete. Nein, der Typ hieß Peter, nein Paul und sah irgendwie ein wenig nach Rotlichtmilieu aus.

Wenn nur nicht die Musik so laut wäre. Das ganze Rumgehopse ging ihm mächtig auf den Kreisel. Und nicht nur ihm…auch die Großneffen von Kalli, Atze und Matze, lungerten gelangweilt neben der Bühne. Was hatte sie nur geritten, den ollen Kalli hierhin zu begleiten? Von wegen Sex & Drugs & Rock N' Roll, das hier war eine Schnarchveranstaltung für Vergreiste. Zum Glück hatte Matze vom letzten Silvester noch ein paar Polenböller dabei, die er während der nächsten Pause der Band – die unweigerlich kommen musste, damit sich die Herren „Musiker“ wieder einen reinlöten konnten – in der Bass Drum deponieren wollte.
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 15.10.2022 - 14:01 Uhr  ·  #11
Und die nächste Pause kam schneller als gedacht. Schon eine viertel Stunde später krochen Kalli, Manni und Günni von der Bühne, um es sich im Hinterzimmer auf einer durchgesessenen Couch mit einer randvoll mit stillem Wasser gefüllten Vodka-Flasche bequem zu machen. Auf Groupies warteten sie vergeblich. Alle flotten Bienen tanzten um Paul herum, wackelten mit ihren Hintern und anderen Körperteilen, um dessen Aufmerksamkeit zu errregen. Der war mittlerweile regelrecht in ein John Travolta Fieber verfallen, zumal aus den Boxen nun auch noch Saturday Night Fever von den Bee Gees schallte. So bekam er kaum noch mit, was um ihn herum vorging. Auch nicht, dass ein jüngerer Besucher der Feier sich auf der Bühne zu schaffen machte. Matze, der Großneffen von Kalli - dem Bandmitglied mit der Indianerhaube oder sollte man heutzutage besser "indigenem Haarschmuck" sagen? - hatte sich hinter das Schlagzeug geklemmt. "Geil", dachte er, "die werden hier gleich alle aus Ihrem Dornröschenschlaf aufwachen." Während er an der Bass Drum rumfummelte, summte er den Song Polenböller von den Acht Eimer Hühnerherzen.

Derweil hatte Ulrike sich von der Tanzfläche verzogen. Sie war es leid, sich Paul mit zig anderen Bräuten zu teilen und gesellte sich deshalb zu der alleine sitzenden Pauline. "Mensch Pauline, leicht hast du's mit dem eingebildeten Lackel sicher auch nicht. Der Typ macht ja was her, aber ein Knackarsch ist auch nicht alles. Wie hältst du den nur aus?" Paulines Gesicht verzog sich zu einer mitleiderregenden Grimasse. "Ich weiß ja, du hast wahrscheinlich recht. Immer wenn ich denke, jetzt pack ich es, kommt er aber mit einem Strauß roter Rosen. Wie soll ich dagegen ankommen?"

Plötzlich machte es auf der Bühne einen entsetzlich lauten Rums. Eine Explosion erschütterte den Raum und eine Hand flog auf die Tanzfläche und landete vor Pauls Discofox tanzenden Füßen.
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 18.10.2022 - 18:14 Uhr  ·  #12
Und, was musste er in seiner augenblicklichen Schockstarre bemerken? Die Hand umklammerte noch einen Drumstick, beides zuckte offensichtlich noch rhythmisch.

Wahrscheinlich war das die Hand von Matze, dem Großneffen von Kalli. Als hätte er eine selbsterfüllende Prophezeiung auf den Weg gebracht, als der den Song "Polenböller" summte, so schien in der Bassdrum wohl etwas erheblich Bedrohlicheres als nur ein Böller versteckt worden zu sein. Ob Matze das gewußt hatte? War das ein Attentat? Doch was mochte es gewesen sein, dass dem jungen Wilden die Hand abgerissen hatte?

Jedenfalls konnte man Matze dazu derzeit nicht befragen, denn nicht nur, dass ihm die linke Hand fehlte, und sich hieraus in einem weitem Schwall das von seinem Herzen gepumpte Blut über die Bühne ergoss, darüber hinaus steckte auch ein Teil eines zerborstenen Beckens des Drumkits in seinem Kopf. Nun, irgendwie sah es aus wie ein ungewöhnliches Piercing, und unter anderen Umständen hätte das sicher ganz cool aussehen können.

Offensichtlich schien die arme Kreatur wohl noch am Leben zu sein. Jemand hatte ihm nun doch noch den Arm abgebunden, ein Krankenwagen war unterwegs und Kalli, Manni und Günni stürmten aus dem Hinterzimmer hervor, um nach dem Rechten zu sehen.

Die Drei waren jedoch absolut verwirrt - war das jetzt echt oder hatte ihnen ein Flashback aus ihrer aktiven LSD-Phase das Gehirn vernebelt? Jedenfalls hatte das Ganze ein Weiteres bewirkt. Paul tanzte nicht mehr und weinte nun jämmerlich an Paulines Schulter.
caramel
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Re: Never Ending Story

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Gepostet: 05.11.2022 - 19:10 Uhr  ·  #13
Zärtlich strich Pauline dem völlig aufgelösten, flennenden Paul über den Kopf und summte ihm leise As Tears Go By von den Stones ins Ohr. Sollte vielleicht doch noch alles in Ordnung kommen mit ihnen? Ulrikes Bemerkungen über Paul hatten sie doch sehr getroffen. Wie gerne wollte sie Ulrike beweisen, dass Paul kein eingebildeter Lackel war.

Fast zeitgleich mit dem Krankenwagen traf auch die Polizei am Ort des Geschehens ein. Kriminalkommissar Dallander und sein Assistent Oberinspektor Werrick staunten nicht schlecht. Im Festsaal herrschte das Grauen. Der Geruch von Blut, Schweiß und Tränen lag in der Luft.
"Sag mir, dass ich irre", stammelte Werrick.
"Das ist echt ein Albtraum", brummelte Dallander vor sich hin, während er über mehrere ohnmächtig gewordene Menschen hinwegstieg. "Wie sollen wir nur Ordnung in dieses Chaos bringen? Der Saal muss ja voll renoviert werden."
"Das schaffen wir nie bis zum großen Polizeiball nächste Woche" jammerte auch Werrick.

Zwei Sanitäter hatten in der Zwischenzeit Matzes linke, immer noch zuckende Hand zusammen mit dem restlichen Körper in den Krankenwagen verfrachtet.

Kalli, Manni und Günni waren nun sicher, dass sie nicht träumten. "Krass, guckt euch mal die Bullen an", meinte Günni zu den beiden anderen. "Die jammern und jammern, schwafeln von Polizeiball und so und vergessen ganz, warum sie eigentlich hier sind."

Das ließen Dallander und Werrick sich nicht zweimal sagen. Schließlich hatten beide einen Ruf zu verlieren. Und sie standen nun zusätzlich unter Druck, unter enormem Druck. Was hatten sie? Einen Schwerverletzten, mehrere Leichtverletzte, dazu mehrere durchgeknallte Menschen, die von Verschwörung faselten, einen völlig verwüsteten Festsaal, und das alles eine Woche, bevor der Polizeipräsident zum jährlichen Betriebsfest erwartet wurde.
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