Schostakowitsch, Symphonie Nr. 4 c-moll Op. 43

 
Epikur
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Schostakowitsch, Symphonie Nr. 4 c-moll Op. 43

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Gepostet: 28.09.2013 - 19:36 Uhr  ·  #1
Der Musikwissenschaftler Boris Schwarz verglich (laut Booklet zur Ashkenazy-Aufnahme) Schostakowitschs 4. Symphonie mit einem „… Vulkanausbruch, den Ausbruch einer zügellosen Phantasie, die beinahe blindlings Musik auswirft.“

Was bedeutet das? Also zunächst: Eine erstaunliche Menge an musikalischen Einfällen. Dann: Immer mal wieder brutale Steigerungen, quasi Eruptionen. Schließlich gibt es noch Passagen, die an den „Tanz auf dem Vulkan“ denken lassen.

Wer sich ein wenig für die Musik des 20. Jahrhunderts interessiert, sollte hier unbedingt einmal hereinhören. Keine Angst, das ist nicht schwer zu hören, allerdings sollte man etwas Zeit übrig haben (je nach Interpret 60 - 70 Minuten). Was außerdem nicht schaden kann: Gute Lautsprecher und tolerante Nachbarn (um die oben erwähnten Eruptionen voll auskosten zu können).

Ich versuche, es kurz zu machen, indem ich auf die Wikipedia verweise.

Werkbeschreibung
Die Symphonie besteht aus drei Sätzen, die ich im Folgenden etwas näher beschreiben möchte. Ich versuche, mich dabei auf das Wesentliche zu beschränken:
  • Kopfsatz
    Dieser Satz ist formal ein klassischer Sonatenhauptsatz, allerdings in ungewöhnlich großen Dimensionen: Allein die Exposition hat ca. 476 Takte. Was in diesem Satz vor allem auffällt, sind die extremen Kontraste und dynamischen Steigerungen (also die Eruptionen). Außerdem bemerkenswert ist hier noch das Presto-Fugato in der Durchführung: Je nach Interpret ein verblüffender klanglicher Effekt.
    Redepenning schreibt zu diesem Satz: „Formal zeichnet er sich durch äußerste Strenge aus, indem eine Dialektik verwirklicht wird zwischen einerseits klarer Formgebung, Stringenz und Konzentration auf ein Motto – das Unisono-Signal zu Beginn – und andererseits einer Vielfalt, ja Heterogenität musikalischer Ideen, die in Richtung Formzerfall tendiert. Eben in dieser Spannung liegt die kompositorische Herausforderung, und Schostakowitsch spitzt sie noch zu, indem er die wuchtigsten Tuttipassagen mit extrem ausgesparten Abschnitten kombiniert, die kammermusikalisch zu nennen eine Übertreibung wäre.“
  • Scherzo
    Bemerkenswert ist hier der Schluss (die „Coda“), die den Eindruck erweckt, als würde ein Uhrwerk ablaufen: Ein Effekt, der durch Überlagerung ostinater Figuren verschiedener Perkussionsinstrumente erzeugt wird. Charakteristisch für diesen Satz insgesamt ist Polyphonie inklusive einer „strengen Fuge“ im Mittelteil. Ostinate Motivwiederholungen lassen dabei immer wieder den Eindruck von „Maschinenmusik“ entstehen.
  • Finale
    Dieser Satz besteht aus einem zwei langsamen Teilen, die einen schnellen Teil umrahmen. Er beginnt mit einem Trauermarsch, worauf ein schnellerer Abschnitt folgt, der eine „Ansammlung humoristischer Episoden – groteske Galoppe, Märsche, Walzer und Polkas“ [K. Meyer] enthält. Mit der folgenden C-Dur-Coda könnte die Symphonie enden, und zwar im Fortissimo, aber Schostakowitsch hat hieran noch eine c-moll-Coda angehängt. Diese Coda ist sehr langsam und leise, dabei aber extrem spannend. Sie schließt mit einer Figur in der Celesta; der Clou dabei ist, dass sie nicht auf dem Grundton c endet sondern auf d. Das klingt wie eine Frage.


Historischer Hintergrund
Hierzu lässt sich eine Menge sagen, was zum Verständnis dieser Musik auch durchaus beitragen kann. Es findet sich aber genug darüber im Internet (z. B. Suche mit „Schostakowitsch 4. Sinfonie“), darum fasse ich mich hier kurz: Schostakowitsch hat die vierte Symphonie von September 1935 bis Mai 1936 komponiert. In dieser Zeit stand der „große Terror“ in der Sowjetunion unmittelbar bevor. Schostakowitsch selbst war 1936 in das Visier von Parteifunktionären geraten, denen seine Musik offenbar zu progressiv oder westlich war, und als „Volksfeind“ bezeichnet worden. Schostakowitsch hat in dieser Situation seine vierte Symphonie vor der geplanten Uraufführung zurückgezogen.

Aufnahmen
Dirigent bei der Uraufführung 1961 war Kirill Kondraschin, dessen Aufnahmen als Referenz gelten dürfen. Ich muss gestehen, ich kenne bisher keine davon.
Unter Berücksichtigung der Klangqualität – ich finde, die ist hier nicht ganz außer Acht zu lassen – habe ich mich bisher für aktuellere Aufnahmen entschieden, und zwar für folgende:

Wladimir Ashkenazy / Royal PO [1989]


Simon Rattle / City of Birmingham SO [1995]


Semyon Bychkov / WDR SO Köln [2006]


Alle drei sind in musikalischer Hinsicht meiner Meinung nach tadellos, wobei die Ashkenazy-Aufnahme von der Klangqualität her gegenüber den beiden neueren, die ich deshalb bevorzuge, etwas abfällt.
Ashkenazy lässt die Symphonie recht zügig spielen, im Vergleich dazu ist Bychkov sehr langsam, während Rattle beim Tempo einen Mittelweg gewählt hat. Die langsamen Tempi nutzt Bychkov zum deutlichen Ausspielen auch kleiner Details, die von der Tontechnik noch hervorgehoben werden (manchmal vielleicht etwas zu sehr: das Violinsolo am Ende des ersten Satzes etwa kommt mir zu laut vor). Ich habe dadurch bei Bychkov Einiges gehört, was mir in den anderen Aufnahmen bisher nicht aufgefallen war. Erstaunlich ist, dass die breiten Tempi bei Bychkov nicht zu einem Verlust an Spannung führen.
Am ausgewogensten, was Klangbalance und Dynamik angeht, ist hier wieder die Rattle-Aufnahme, die sich hierdurch unter den drei vorgestellten für den Einstieg am ehesten empfiehlt.

Eine umfangreiche Liste mit Aufnahmen findet sich noch auf einer japanischen Website über Schostakowitsch unter "Works".
Mr. Upduff
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Re: Schostakowitsch, Symphonie Nr. 4 c-moll Op. 43

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Gepostet: 29.09.2013 - 15:45 Uhr  ·  #2
Ich habe von Schostakowitsch nur die 5. und 6. Symphonie (WDR/Barshei) im Bestand...habe ich ewig nicht mehr gehört...und auch wenig davon in Erinnerung...werde ich nun mal wieder auflegen...und wenn`s zu mit "dringt" werde sie um die 4. ergänzt...
Epikur
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Re: Schostakowitsch, Symphonie Nr. 4 c-moll Op. 43

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Gepostet: 29.09.2013 - 19:39 Uhr  ·  #3
Verglichen mit der 5. oder 6. Symphonie ist die Nr. 4 erheblich "wilder", aber jene sind auch sehr hörenswert.

Die 5. Symphonie hat Schostakowitsch genutzt, um sich nach den Prawda-Angriffen auf ihn zu rehabilitieren. Oberflächlich hat er damit eine "Durch Nacht zum Licht"-Ästhetik realisiert, wie sie offiziell erwünscht war (soll wohl den Sieg des Proletariats symbolisieren); Schostakowitsch hat aber nach der gegen ihn gerichteten Kampagne gelernt, mit Chiffren oder Ironie zu arbeiten. Das "Jubelfinale" in der fünften etwa soll hohl (erkennbar an der leeren Quinte, d. h. nicht eindeutig Dur) und nach erzwungenem Jubel klingen. In formaler Hinsicht folgt die Symphonie dem klassischen, viersätzigen Modell.

Die 6. Symphonie ist schon wieder deutlich ungewöhnlicher: Ein langsamer, ziemlich düsterer Satz, gefolgt von einem lustigen Scherzo. Danach wäre jetzt nach dem klassischen Modell ein langsamer Satz und dann das Finale (wieder schnell) fällig. Es kommt aber ein noch lustigeres Scherzo. Erstaunlich, dass er hierdurch nicht wieder größere Schwierigkeiten bekommen hat.
caramel
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Re: Schostakowitsch, Symphonie Nr. 4 c-moll Op. 43

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Gepostet: 29.09.2013 - 20:08 Uhr  ·  #4
Vielen Dank für die interessante Vorstellung.

Ich muss gestehen, Schostakowitschs Musik ist nicht unbedingt nach meinem Geschmack.

Mich haben hier besonders die historischen Hintergründe der Entstehung dieses Werkes interessiert. Es ist immer wieder bemerkenswert, welch hohe Bedeutung Musik (und Kunst an sich) für die Politik hat bzw. hatte.

Irgendwo habe ich über die 4. Symphonie auch gelesen: „ein Werk gewaltiger Dimensionen“. Das ist dann wohl nicht nur musikalisch zu verstehen.
Klemperer
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Re: Schostakowitsch, Symphonie Nr. 4 c-moll Op. 43

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Gepostet: 27.10.2013 - 17:14 Uhr  ·  #5
Hollala, da komm ich ewig nicht (v.a. aus Zeitgründen) ins Forum, und ihr stellt so ein Werk vor. Klasse! Ich glaube, wer Herrn Schostakowitsch nicht soooo mag, würde vielleicht nicht mit der 4.Symphonie beginnen, die mit der wirren Oper "Lady Macbeth von Minsk" ja wirklich als "schwierig" gilt. Aber warum eigentlich nicht? Was ist schon gegen "wirr" zu sagen^^?

Jedenfalls tausend Dank, Epikur! Ich selbst finde die Rattle-Aufnahme schwächer, und höre gern die schon ältere, aber immerhin doch schon stereophonen :D Meister-Einspielungen mit dem Dirigenten Kurt Sanderling, der Shostakovich gut kannte - soweit man ihn gut kannte. Der Mann war eben sehr selbständig. Ein feines Interview kann man übrigens hier lesen, Sanderling wurde ja fast 100 Jahre alt, 1912-2012 glaub ich, muß kurz vorm 100. gestorben sein... Und war auch ein feiner Mensch.

http://www.musik-in-dresden.de/2010/09/21/kurt-sanderling

Meine Meinung zu Rattle, den ich in den späteren Jahren nach vielen tollen Aufnahmen mit dem oben gezeigten Birmingham-Orchester für einen wahren Selbstdarsteller und Narziß halte, ist sicher nur persönlich getrübt, da Rattle immer so arg für die in Hamburg für das absurd teure Elbphilharmonie-Wrack machte und macht. Er redet auch in letzter Zeit nicht so arg gebildet, eher talkshowhaft, wenn er schwärmt, er würde gern mal für Angela Merkel kochen, die sei ja so toll, usw, machte längst nach der Krise immer Deutsche-Bank-Werbung usw. Sicher ein feiner Musiker, gibt aber oft bessere, die halt manchmal mehr Musik machen als sich in den Vordergrund schieben. Wie Sanderling etwa^^. Die Ashkenazy-Aufnahme hab ich gehört und fand sie gut (mir ist die 4. auch nichts für jede Woche), die mit Bychkow kenne ich wie sicher viele andere gar nicht.

Jedenfalls toll, daß Ihr sie hier besprecht! Muß sie doch mal wieder vorkramen...Im Fernsehen wurde die Oper, die ebenso kritisiert wurde (wie alles schon schön erzählt), mal gezeigt, ich hab aber zugegeben nur bis zur Hälfte durchgehalten, da ich nicht der größte Opern-Fan bin.

Was ich unglaublich schön finde, und was für alle Freunde des Wohltemperierten Klavier auch schön sein könnte, ist Schostakowitschs opus 87: 24 Präludien und Fugen, also sein WT1. Das hat er quasi für Tatjana Nikolajewa geschrieben, so ähnlich jedenfalls, und sie spielte das Werk auch ein. Zauberhafte Aufnahmen gibt es aber auch mit Ashkenazy, mit Keith Jarret, und einzelne Stücke daraus mit Svjatoslav Richter - letztere uralt, aber umwerfend schön. Gab es mal bei youtube, hab ich auch als Platte aus der UdSSR, scheint gelöscht. Aber hier ein link zu Tatjana Nikolajeva, als alte Dame, die als junge Frau 1950 unsern Meister traf. Das führte zu lebenslanger Freundschaft, und eben auch zu opus 87, er schickte ihr immer was, sie spielte es... Dreimal hat sie das Werk aufgenommen. Hier Präludien 6 und 7. Die 6.Fuge ist mit Richter so umwerfend schön....aber das ist ja alles Geschmacksache.

Hier der link zu Nikolajeva:

https://www.youtube.com/watch?v=y1_o_wouW68

und wer nur einen Ausschnitt aus der 7 hören möchte, perlend und zauberhaft:
https://www.youtube.com/watch?…uW68#t=597

So ab 2 Minuten 13 beginnt die Fuge der 6., die sie im Vergleich zu Richter ruhig spielt, bei Richter bin ich immer tagelang glücklich, muß mal einen link suchen.

Dachte, wegen op.87 öffne ich keinen neuen thread, oder? Euch allen viele Grüße!
radiot
 
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Re: Schostakowitsch, Symphonie Nr. 4 c-moll Op. 43

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Gepostet: 27.10.2013 - 19:45 Uhr  ·  #6
Schostakowitsch gibt es bei mir nur so:



Das Interesse kommt aber eher vom Interpreten denn vom Komponisten her.

Radiot grüßt! 8)

P.S.: Muss noch hinzufügen, da das Teil gerade läuft, dass eigentlich nicht zu erkennen ist, dass Jarrett da am Flügel sitzt. Ich hätte vor Jahren nie gedacht, dass Jarrett so gekonnt Musik aus einer völlig anderen Richtung und Entstehungszeit interpretieren/spielen kann.
Epikur
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Re: Schostakowitsch, Symphonie Nr. 4 c-moll Op. 43

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Gepostet: 28.10.2013 - 19:03 Uhr  ·  #7
@Klemperer
Zugegeben, die vierte Symphonie ist schon ein „Brocken“, aber ich meine, die Einstiegshürde ist hier eher die Länge als die Musiksprache.
Danke für den Link zum Sanderling-Interview, das ist wirklich hochinteressant. Ich muss gestehen, dass ich Sanderling bisher noch nicht als Schostakowitsch-Interpret wahrgenommen habe (vielleicht versuche ich es mal mit der Sanderling-Aufnahme von Op. 79 „Aus jüdischer Volkspoesie“, die auch in dem Interview erwähnt wird).

@caramel
Die historischen Hintergründe zu kennen, erleichtert im Falle Schostakowitschs das Verständnis natürlich schon, ist aber nicht zwingend erforderlich. (Bei mir war es eher umgekehrt: Ich habe mich stärker mit den geschichtlichen Hintergründen beschäftigt, weil ich die Musik aufregend fand.) Wen’s interessiert: Auf youtube habe ich noch eine Dokumentation über Schostakowitsch in der Stalin-Ära gefunden. Anfangs sind dabei auch Ausschnitte aus der vierten Symphonie zu hören:

http://www.youtube.com/watch?v=irYM2VcBv4A

@Klemperer & Radiot
Von den Präludien und Fugen Op. 87 kenne ich die Aufnahmen mit Jarrett und Scherbakow sowie in Ausschnitten mit Nikolaewa und Schostakowitsch selbst – und die finde ich alle hörenswert. Bei Schostakowitsch fallen hier die teils sehr schnellen Tempi auf, ein Aspekt, den Sanderling in dem Interview ja auch erwähnt hat.
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