
!974 zogen wir innerhalb von Böblingen, wo wir seit Ende der 60er Jahre in einer Mietwohnung gelebt hatten, in das Haus meiner Großeltern väterlicherseits. Das 1938 errichtete Haus wurde von uns Stück für Stück umgebaut und vergrößert und hatte einen entscheidenden Vorteil: ich hatte von nun an ein eigenes Zimmer, mein sieben Jahre älterer Bruder wohnte neben mir im Obergeschoss. Da sich dieser wenige Jahre später in Richtung Studium nach Tübingen verabschiedete hatte ich alsbald eine ganze Etage für mich. Und er hatte seine Schallplatten, an denen er offensichtlich nicht so wahnsinnig hing, dagelassen. Das war aber auch ein krude Mischung: neben einer Ten Years After- Scheibe stand eine Big Band Compilation zu den Olympischen Spielen in Mexiko Stadt 1968. Dazu ein unterirdisches Hendrix-Bootleg und eine Maxi Single der Dolannes-Melodie. Dazwischen aber überraschenderweise ein echtes Schmuckstück, die „Relayer“ von Yes aus eben dem Jahr 1974.
Nach dem nervenaufreibenden Gewaltakt zu dem Konzept-Doppelalbum „Tales From Topographic Ocean“ hatte Rick Wakeman frustriert die Band verlassen, da es Yes zu sehr in Richtung ausufernder Songs mit Bezug zu Jazzrock und Weltmusik empfand und zu dem Album selbst musikalisch gar nicht so viel Eigenes beisteuern konnte. Man musste also einen Nachfolger finden, was gar nicht so einfach war. Steve Howe wünschte sich Keith Emerson, der aber mit seinem eigenen Trio dabei war, Prog-Geschichte zu schreiben. Auch ein gewisser Vangelis Papathanassiou erwies sich nach einigen Proben nicht als tauglich für das Bandgefüge. Schließlich traf die Wahl auf den Westschweizer Patrick Moraz, den man allerdings auch noch von seiner Band Refugees loseisen musste, inklusive einer Entschädigung für die dort verbliebenen übrigen Bandmitglieder.
Etwas holprig ging es dann auch weiter: legendär ist, dass Manage Brian Lane fast überfahren hätte, als er ihn zum Vorspielen abholte. Schließlich aber klappte es doch und Mora6z stieß zur Band hinzu, die jedoch mit den Arbeiten am Album schon ein gutes Stück vorangekommen war.
Das erste Stück, gleichzeitig Herzstück und Höhepunkt von „Relayer“ ist The Gates Of Delirium, das sich an Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ anlehnt. Jon Anderson war mit einer Songidee dazu aufgetaucht, das Stück wurde dann aber von der Band gemeinsam entwickelt. Und was für ein Stück das ist! Sozusagen die Essenz des Prog, mit irrwitzigen Tempowechseln, Haken schlagend, hochkomplex und doch den Hörer wie ein Sog in sich hineinziehend. Nie zuvor klang Yes härter, aggressiver, es gibt Anleihen bei Jazz und Avantgarde (nicht zuletzt durch die Einschübe von Patrick Moraz die der musique concrete entliehen waren). Am Ende wir die Suite aufgelöst durch das sphärisch schwebende Soon, das auch als Single-Edition auf der unbedingt zu bevorzugenden Version des Albums von Rhino enthalten ist.
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=g8kLYZvVP7s
Das nachfolgende Sound Chaser ist noch abgedrehter, schräger und freier in der Form und noch näher am Jazz. Howe feuert aberwitzige Gitarrenpassagen ab und White wirbelt an den Drums wie ein Irrwisch. Der ruhigere Mittelteil, der Howes Affinität zur Klassik verdeutlicht, wirkt wie das Aug e in einem Hurrikan, so fulminant ist der Schlussteil mit irritierendem und deshalb so passenden Gesangslinien von Jon Anderson, der auch aggressiv wie selten klingt. Willkommen in der Avantgarde! Und ich bin überzeugt davon, dass dieses Stück ein Wegbereiter und Urahn für die ambitionierten Progmusiker der Jetztzeit war, von Dream Theater bis hin zu Polyphia.
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=Eks6KcV2ufg
Zum Abschluss gibt es mit To Be Over ein Stück Ear Candy, das manche Kritiker als zu schön empfinden in seiner schlichten Erhabenheit. Aber die letzten zwei Minuten sind derartig majestätisch das ich immer noch bei jedem Hören eine Gänsehaut bekomme. Was für ein Abschluss eines epochalen Albums!
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=BKe4qBYRgdY
Bei der wie schon ausgeführt unbedingt zu bevorzugenden Rhino-Ausgabe gibt es dazu noch einmal Soon als isoliertes Stück, eine Kurzfassung von Sound Chaser und zum AbschlussThe Gates Of Delirium als Studiodurchgang, quasi beim Entstehen, als Einblick in das Yes-Klanglabor. Klanglich etwas verbessert und mit der bei Rhino üblichen aufwendigen Aufmachung in Sachen Booklet ist dies sicher die beste Wahl.
A apropos Klang: der wurde bei „Relayer“ häufig kritisiert, da er Tiefe und Volumen vermissen lässt, was wohl auch darauf zurückzuführen ist, das Produzent Eddie Offord sein mobiles Studio zum Einsatz brachte, das eigentlich eher für Livemitschnitte konzipiert war und daher in Sachen Studiotechnik etwas schwach auf der Brust war.
Andererseits passt der etwas klirrende, höhenlastigere Klang auch gut zu der aggressiven und energetischen Musik, ebenso wie das kalt erscheinende Coverartwork von Roger Dean: in stahlgrau gehalten, vorwiegend aus steilen, abweisenden Felsen bestehend, bei dem doch auch der Himmel durchblitzt, ergänzt es den Gesamteindruck der Musik perfekt.
Für mich damals Mitte bis Ausgang der Siebziger eine absolute Hör-Revolution, ein akustischer Urknall in nie zuvor und danach auch nie mehr in solcher Perfektion erlebter Soundlandschaften. Ein absoluter Meilenstein nicht nur des Prog, sondern überhaupt der Rockmusik und für mich das beste Yes-Album und eine absolute Inselplatte.
Yes
Relayer, ursprünglich Atlantic Records, 1974
hier in der Version von Rhino
Jon Anderson Lead Vocals
Chris Squire Bass & Vocals
Steve Howe Guitar & Vocals
Patrick Moraz Keyboards
Alan White Drums & Percussion
Spieldauer:69:17 Minuten
01. The Gates Of Delirium
02. Sound Chaser
03. To Be Over
04. Soon (Single Edit)White City
05. Sound Chaser (Single Edit)
06.The Gates Of Delirium (Studio run through)