David Chesky - Jazz In The New Harmonic

 
firebyrd
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David Chesky - Jazz In The New Harmonic

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Gepostet: 28.09.2013 - 18:34 Uhr  ·  #1
»In The New Harmonic«- was will uns das sagen? Erwartet uns gar eine neue Neugestaltung der Harmonielehre? Sicher nicht, doch außerhalb üblicher Strukturen befasst sich David Chesky mit der Musik seiner neuen Platte mit der einst von Gunther Schullers begründeten improvisatorischen Konvergenz von Klassik und Jazz oder auch der sogenannten Third Stream-Bewegung, dabei aber eigene Ideen verarbeitend. Schuller versuchte seit etwa 1957, Elemente von Klassik und Jazz zu verbinden und einige Jazzmusiker schlossen sich diesem Gedanken an.

Nun ist es der am 29. Oktober 1956 in Miami Beach geborene Pianist David Chesky, der diese Entwicklung aufgegriffen hat. Neben seiner eigenen musikalischen Entwicklung und Zusammenarbeit mit bekannten Jazzmusikern gründete er mit seinem Bruder 1989 das eigene Plattenlabel Chesky Records.

Die Musik von "Jazz In The New Harmonic" weist eine weitere Besonderheit auf, so lese ich im Booklet: »Recorded in Binaural+ with the B & K 4100 Head and Torso simulator, MSB A/D Converter, and Chrystal Microphone cable.« Binaural - was ist denn das? Jedenfalls musste ich schmunzeln, als ich auf einem der Bilder des Booklets den Bassisten erblicke, wie er sein Instrument in Front einer Puppe mit Plastikkopf spielen sehe. Das erinnert mich doch ganz stark an etwas, was es schon einmal gab - die Kunstkopfaufnahmetechnik der Siebziger, auch binaurale Tonaufnahme genannt. Hier nun also neben dem Kopf noch der Torso! Das Label Chesky Records bedient sich dieser alten Aufnahmetechnik erneut - dieses ist nicht die erste Platte mit dieser Technik. Ganz besonders gut soll dieser Effekt beim Hören mit dem Kopfhörer zum Tragen kommen, denn wird dieses Signal über Kopfhörer abgehört, sollte es einen realistischen, räumlichen Live-Eindruck vermitteln, 'Binaural+' nennt Chesky das Verfahren. Nun, ich werde hierzu nach Hörtest noch separat etwas dazu sagen, sofern meine alten Ohren noch Stellung dazu nehmen können.

Doch nun zuerst zur Musik aus den Boxen und was ich da höre, fasziniert mich sogleich. Musik, die mich sofort an die Übergangsphase von Miles Davis erinnert, zu jener Zeit, als solch hervorragende Platten wie "Filles De Kilimanjaro" oder "In A Silent Way" entstanden und Bitches Brew vor der Tür stand. Einige werden vielleicht noch den Song "The Beat Goes On" von Sonny & Cher kennen. Genau dieses Thema des Hits bestimmt durch den Bass eindringlich den ersten Titel dieser Platte, gelegentlich unterbrochen durch kleine Abweichungen. Ein sparsam gespieltes, aber intensiv wirkendes Saxofonsolo mutet inmitten dieser tranceartigen Stimmung fast schon auflockernd an. Auch Cheskys Pianosolo wirkt beschaulich und somit steht schon schnell fest: Hier geht es nicht um Höchstleistungen einzelner, sondern um Geschlossenheit.

Der Komponist selbst führt zu seiner Idee wie folgt aus: »I wanted to take the harmonic language of 21st century classical music and make it groove.« Ja, das ist ihm mit Sicherheit gelungen, ob im anfänglich eher beschaulich wirkenden Umfeld oder auch uptempo bei "Broadway". Allen Stücken ist diese besondere Stimmung einer gewissen 'Abwesenheit' gemein, das heißt, die Musik scheint fast schwerelos mit einer unglaublich modalen Ausrichtung dahinzuschweben, wie es Miles Davis einst perfektionierte. Dessen Geist ist jedenfalls allgegenwärtig. Dennoch habe ich nie das Gefühl, hier spiele eine Coverband zu Ehren des Meisters, obgleich natürlich stets Passagen an seine Musik erinnern. Sehr sparsam setzt Chesky seine Begleitfiguren ein, Dissonanzen inbegriffen, hier mit Spuren von Thelonious Monk, dessen Mysteriosität im Übrigen auch in den Solopassagen auftritt. Bass und Schlagzeug bieten einen fast hypnotisierenden Rhythmus, wie ein Uhrwerk agierend.
Doch gelegentlich wird auch 'die Sau ein wenig herausgelassen', zum Beispiel beim Basssolo innerhalb des Titels "Grooves From The Underground" oder mit dem Schlagzeugsolo bei "Deconstruction".

Für mich als Hörer öffnen sich dann Räume, wenn ich mich vorab ganz einfach entspannt eingelassen habe, hier passt der Begriff Entschleunigung, aber ohne den geringsten Hauch einer langweiligen Lounge-Atmosphäre. So, und nun den Kopfhörer übergestülpt!
Ja, und hier eröffnen sich die Räume, oder besser, ein Raum. Ich scheine inmitten der Band zu stehen, eine klare Abbildung jedes Instruments, das Schwirren der Becken, das Schnarren des Basses, der Anschlag des Pianos, alles offenbart sich mir. Jeden einzelnen Musiker kann ich an seinem Platz verorten, mit einem leichten Hall versehen ist das Zuhören eine köstliche Angelegenheit.

Für mich ist diese Veröffentlichung somit in jeder Hinsicht eine vollkommene Angelegenheit. Alle Sinne werden angesprochen, das Ergebnis ist ein fesselnder Hochgenuss!

David Chesky (piano)
Javon Jackson (tenor saxophone)
Jeremy Pelt (trumpet)
Peter Washington (bass)
Billy Drummond (drums)

01:Jazz In The New Harmonic (8:26)
02:Broadway (9:34)
03:American Culture X (9:01)
04:Duke's Groove (8:21)
05:Grooves From The Underground (9:56)
06:Deconstruction (7:30)
07:Burnout (9:15)
08:Transcendental Tripping (7:12)
(all compositions by David Chesky)

http://www.davidchesky.com/

Wolfgang

Horst
 
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Re: David Chesky - Jazz In The New Harmonic

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Gepostet: 08.10.2013 - 15:39 Uhr  ·  #2
Chesky Records kam auch sofort in den Sinn.
Ein feines audiophiles Label, dass tolle Alben
herausgebracht hat.
Da werde ich mal testen müssen.
radiot
 
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Re: David Chesky - Jazz In The New Harmonic

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Gepostet: 18.10.2013 - 18:50 Uhr  ·  #3
Nun, erst dachte ich, von Chesky hätte ich gar nichts im Regal stehen, aber dann doch, die Gehirnwindung meldete sich. Zumal ich die Platte letztens bezüglich Oregon auch erwähnt hatte - Oregon "Beyond Words" von 1995 lümmelt sich hier im Regal.
Gekauft damals wegen
1. Oregon
2. Der Anpreisung "Audiophile Recording - 20 Bit - 128x Oversampling"
3. "High Resolution Technology - 128x Oversampling"

Musikalisch nicht so meine Inselplatte, aufnahmetechnisch kommt die Musik schon gut rüber.
Der Name David Chesky sagte mir überhaupt nichts.

Ansonsten:

"Stereo" 11/2013 ab Seite 58 ein knapp vierseitiger Bericht über David Chesky und "Lars", dem Binaural+ Dummy. Quasi Kunstkopf der besonderen Art. Kunstkopfsendungen gab es in den 1980er Jahren im Radio (Radio DDR oder so?), in denen interessante Musik gespielt wurde. Da dies zu einer christlichen Zeit passierte, ich glaube so Sonntagnachmittag, hing ich da immer, sicher aber öfter unterm Kopfhörer und lauschte hingebungsvoll. War schon ein Erlebnis, welches ich heute aber nicht mehr so erinnern bzw. nachvollziehen kann. Irgendwas in Kunstkopf habe ich auf Platte bzw. CD. Auf CD natürlich die "Flow Motion" von Can. Leider wird auf die Aufnahmetechnik "Kunstkopf Stereophonie" weder in den Linernotes von Alan Bangs noch ausführlicher in den Credits eingegangen. Dort wird nur die Aufnahmtechnik erwähnt: "Mixed by Manfred Schunke at Delta Acoustic Studio, Wilster, Germany, using the Artifical Head Sound Technique (BINAURAL)".
Lange gab es diese "Spielerei" dann ja auch nicht.
Bei Chesky Records bzw. den dort aufgenommenen und auf der Homepage vorgestellten Platten fällt mir die völlig uneinheitliche Covergestaltung auf. Einen guten Grafiker hat der Mann nicht an der Hand. Die meisten Platten würde ich wegen der hässlichen Cover nicht mal nachts auf'm Hof in die Hand nehmen. Zum Teil sind ja richtig gute Musiker unterwegs, aber irgendwie funkts bei Chesky Records und mir nicht so richtig. Eigentlich gar nicht ...

Radiot grüßt! 8)
Mr. Upduff
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Re: David Chesky - Jazz In The New Harmonic

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Gepostet: 19.10.2013 - 06:37 Uhr  ·  #4
Irgendwie reibt`s bei mir mit @Radiot in der letzten Zeit...das Cover zunächst gefällt mir außerordentlich gut und könnte neben der Milesmalerei auf "Star People" gut bestehen...die eben gesichteten Cheskycover sind wirklich das Gegenteil von "einheitlich" - und warum auch : Jazz isses nun mal auch nicht - sie räubern ´so zwischen ECM und Blue Note...für mich sind da einige optische Perlen schon dabei...und nun zur Musik (die es leider nur als Schnipsel gibt): das gebotene Gebräu ist schon sehr eng am End60/Anfang70er-Miles...die fast einheitlichen Titellängen versprechen regelmäßige Dosen, in dem Miles zum Leben erweckt wird...und ich bin auf jeden Fall neugierig geworden, zumal der Kunstkopf ebenfalls ein Kaufanreiz meiner Jugend war...
radiot
 
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Re: David Chesky - Jazz In The New Harmonic

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Gepostet: 19.10.2013 - 10:40 Uhr  ·  #5
Zitat geschrieben von Mr. Upduff

Irgendwie reibt`s bei mir mit @Radiot in der letzten Zeit...das Cover zunächst gefällt mir außerordentlich gut und könnte neben der Milesmalerei auf "Star People" gut bestehen...die eben gesichteten Cheskycover sind wirklich das Gegenteil von "einheitlich" - und warum auch : Jazz isses nun mal auch nicht - sie räubern ´so zwischen ECM und Blue Note...für mich sind da einige optische Perlen schon dabei...und nun zur Musik (die es leider nur als Schnipsel gibt): das gebotene Gebräu ist schon sehr eng am End60/Anfang70er-Miles...die fast einheitlichen Titellängen versprechen regelmäßige Dosen, in dem Miles zum Leben erweckt wird...und ich bin auf jeden Fall neugierig geworden, zumal der Kunstkopf ebenfalls ein Kaufanreiz meiner Jugend war...


Mein lieber Mr. Upduff!

Was meine Bauchschmerzen mit der Covergestaltung bei Chesky Records betrifft, meine ich nicht das Cover der vorgestellten Platte "Jazz In The New Harmonic", das scheint ja eher oder ist die Ausnahme, da es gelungen ist. Könnte auch aus der Zeit der 60er Jahre stammen, nicht ganz Blue Note, da die mehr auf gute Fotos setzten, aber eben aus der "Glanzzeit" der Covergestaltung, als eine Cover noch ein Cover, ein Cover noch ein Cover, ein Cover noch ein Cover war ...
Die Schriftgestaltung auf besagter Platte harmoniert mit dem Bild, ganze Arbeit. Chapeau! (Ich hab mal den Beruf eines Schriftsetzers erlernt, und da bin ich betreffs Schriftgestaltung immer noch ein bisschen infiziert.)
Über die Musik will ich mit meinem Statement gar nichts aussagen. Und ob die Musik nun explizit "Jazz" ist oder "Humppa", das ist mir auch völlig schnurz. Und ich glaube zu wissen, dass unser aller Bandbreite zum Thema Musik doch sehr ausgedehnt ist, wir alles mögliche Zeuch's hören, Vorlieben haben, Sachen, die wir nicht so mögen und Stile/Richtungen, mit denen wir einfach nichts anfangen können. Dies sagt aber alles gar nichts über die Qualität der jeweiligen Musik aus.
Auf alle Fälle bin ich auch neugierig geworden durch die Vorstellung der Platte und den erwähnten Artikel in "Stereo".

Radiot grüßt! 8)
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