Lorenz Hargassner Quartet - Vitality

 
firebyrd
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Lorenz Hargassner Quartet - Vitality

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Gepostet: 14.03.2011 - 08:02 Uhr  ·  #1
Lorenz Hargassner Quartet - Vitality


Aufgenommen am 24. und 25. März 2009 bei Fattoria Musica in Osnabrück, erscheint nun diese zweite Platte des Wiener Saxofonisten.

Mit einer klassischen Ausbildung startete die Karriere des Musikers, zunächst an Violine und Klarinette. Der am 1. Juli 1978 geborene Hargassner stieß erst im Alter von 20 Jahren sowohl zum Jazz als auch zum Saxofon. Seit 2009 lebt er in Hamburg.

Nicht nur Jazzer finden wir in der Band, sondern auch einen Musiker, der in der Band Stanfour spielte, nämlich der Drummer Paul Kaiser. Bekanntester Musiker dürfte sicher der Pianist Buggy Braune sein, der Hamburger Professor für Jazzpiano.
Ich möchte an dieser Stelle ein Zitat aus der Pressemitteilung bringen, um in die entsprechende Richtung zu lenken:

»Im Programm von Vitality findet sich eine Vielfalt an musikalischen Richtungen, die durch die individuelle Spielweise des Quartetts einem roten Faden folgt. An jeder Stelle klingt diese Band nach sich selbst und unterstreicht dabei die unterschiedlichen musikalischen Prägungen der Protagonisten.«

Ein kleines Beiblatt finde ich noch mit persönlichen Anmerkungen des Künstlers zu den einzelnen Stücken. Hier können wir unter anderem lesen, dass der Titel "September 1st" seiner Tochter gewidmet ist, dass er in "Repeated Behaviour" in seinem Appartement in New York über die Vergangenheit grübelte, mit "Sisyphos" offensichtlich eine gescheiterte Beziehung verarbeitet wird und dass Astor Piazzolla eine große Inspiration für ihn ist.

Mit sanften Klängen eröffnen Hargassner und Braune die Platte, der Saxofonist erweckt in mir Assoziationen zu Wayne Shorter, und das ist ja nichts Schlechtes. Mit einem leichten Groove entführt uns das ganz sanft akzentuierende Schlagzeug in ein träumerisch-rhythmisches Umfeld - ganz viel Gefühl steckt in diesem Titel, und schon bald erfüllt ein elastisches Basssolo den Raum mit einer gewissen Eleganz. Und eine gewisse 'Coolness' schwebt über allem, es swingt und rockt eigentlich gleichzeitig. So deckt allein der Eröffnungstitel gleich mehrere Phasen der Entwicklung des Jazz ab, sei es mit modalen Klängen, mit cooler Spielart, mit dem Funk eines Horace Silver. Weiterhin ist bereits ein erster Hauch von Fusion zu spüren. Man kann also gespannt sein, wie das weitergehen mag.

Im 5/4-Takt geht es weiter und eine sich schlängelnde Saxofonmelodie bestimmt das Geschehen, über dem schon wieder eher rockenden denn swingenden Schlagzeug. Und schon bald der erste Soloansatz von Hargassner, der auf eine Art und Weise sein Sax spielt, als wäre er in einer längst vergangenen Zeit ansässig. Hier spüre ich Aufbruchstimmung der alten Tage, der Sechziger, der Siebziger, da wird auch mal rotzig gespielt, mal überblasen, das verbreitet bei mir Gänsehaut, ganz klasse, dieser Track, der auch solche Musikliebhaber ansprechen könnte, denen konventioneller Jazz zu langweilig ist.
Denn genau das ist es hier nicht, immer wieder Wendungen und Ideen der Musiker, die eine ungeheure Lebendigkeit ausstrahlen. Auch Braunes Solo ist zupackend. Ein besonderes Lob bereits an dieser Stelle für die geschmeidige Rhythm Section.

"Mira": Nun swingt es aber schlussendlich, so, wie man es teilweise vom coolen Jazz der amerikanischen Westküste kennt. Ein wenig Lee Konitz scheint durchzudringen.
Der bisher eher rockende Kaiser zeigt nun sein swingendes Talent und der Titel dürfte auch Jazzpuristen verwöhnen. Aber Ecken und Kanten sollte man auch mögen, hier sind neben der Coolness durchaus auch Emotionen im Spiel, die die Pferde sanft durchgehen lassen.
Aber nun ist Zeit für eine Ballade, Zeit für Entspannung und Erholung, für Melancholie, in modalem Kontext vorgetragen. Das ist die Art Musik, bei der ich mir einen Schwarz-Weiß-Film vorstelle, der abends in den dunklen Straßen New York's spielt und wo aus irgendeiner Kellerkneipe Musik klingt. An der Bar ein Mann, der am Whiskeyglas hängt und seiner Liebe nachtrauert. Aber alles wird gut und in "Peter's Blues" wird eben der sogleich verarbeitet. Ein Stück, zusammen verfasst mit dem Fusionmusiker Peter Weniger, ist auch das am stärksten rockende, das ist eigentlich Jazz Rock und es funkt. Allerdings nicht so, wie man es zum Beispiel von farbigen Künstlern des Genres kennt. Hier ist ein trocken rockendes Element, dann doch eher vordergründiger. Allerdings swingt es zusätzlich noch im Mittelteil zum groovenden Pianosolo Braunes.

Eine weitere Abwechslung bietet sich auf "Sisyphos", es singt Hanna Jursch ihren eigenen Text. Dazu rapt (!) der Saxofonist und begibt sich in moderne Gefilde. Sehr ungewöhnlich und überraschend kommt das, ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Auf jeden Fall gewagt in diesem Umfeld, irgendwie geht es Richtung 'Jazz & Lyrik'. Aber - es passt, vielleicht ein Einstieg für Jazzmuffel?

Nach erneutem Aufbruch in swingende Gefilde, auf Hard Bop aufbauend, bereits der letzte Song, vom Tangospezialisten Astor Piazzolla.
Eine Ballade ist es noch einmal, die uns verabschiedet. Anklänge an des Saxofonisten frühere Klassikausrichtung paart sich mit einer luftigen Melancholie, die des Komponisten Handschrift nicht verleugnet. Für mich das schönste Stück der Platte, auf den Aspekt 'schön' bezogen natürlich.

Ansonsten kann ich nicht umhin, angesichts der Vielfalt der Elemente, den Musikern zu bescheinigen, mit jedem Titel eine Besonderheit geschaffen zu haben. Mit Hargassner ist ein neues großartiges Talent auf der Jazzbühne aufgeschlagen, ich denke, er wird seinen Weg machen.
Wieder bleibt ein kleiner persönlicher Wunsch - denn als Freund 'entfesselten' Jazz' brauche ich ab und zu eine gewisse Losgelöstheit von der 'Etikette' und hätte mich gefreut, wenn Hargassner gelegentlich einmal freier gespielt hätte. Auf den ersten beiden Stücken finden sich bereits die entsprechenden Ansätze.
Aber ich kann mit Freude feststellen, dass schon wieder eine sehr gute Platte in unseren Gefilden entstanden ist!

Musiker:

Lorenz Hargassner (alto and soprano saxophones, spoken words)
Buggy Braune (piano)
Roland Fidezius (bass)
Paul Kaiser (drums)
Hanna Jursch (vocals)

Titel:

01:September 1st (6:11)
02:Collage (6:08)
03:Mira (4:55)
04:Repeated Behaviour (7:18)
05:Peter's Blues (6:06)
06:Sisyphos (4:50)
07:On Y Va (6:15)
08:Tanti Anni Prima (6:00)
(All compositions by Lorenz Hargassner except "Tanti Anni Prima" by Astor Piazolla, "Peter's Blues" is co-written by Peter Weniger, lyrics for "Sisyphos" by Hanna Jursch)


http://www.lorenzhargassner.com/


Wolfgang
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Re: Lorenz Hargassner Quartet - Vitality

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Gepostet: 14.03.2011 - 14:50 Uhr  ·  #2
Wenn ich lese "Aber Ecken und Kanten sollte man auch mögen, hier sind neben der Coolness durchaus auch Emotionen im Spiel, die die Pferde sanft durchgehen lassen." so habe ich doch ein wenig Angst weiter in den Jazz einzutauchen.

Trotzdem ist das kein Schlusswort, da ich mich, sobald mein Musikzimmer endlich fertiggestellt ist, in die vielen kürzlich erworbenen Jazz Alben einhören werde. Wer weiß, vielleicht komme ich ja dann auf den Herren hier zurück.

Ach ja.
Prima Rezi JazzByrd.
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