SCOTT WALKER - Tilt

grandios!

 
firebyrd
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SCOTT WALKER - Tilt

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Gepostet: 05.05.2006 - 19:13 Uhr  ·  #1
Nach „Climate Of Hunter“, aus 1984, endlich wieder ein Lebenszeichen:

TILT, 1995 erschienen.


Über diese Veröffentlichung ist schon einiges geschrieben worden und hat zu so mancher Kontroverse geführt.

Es ist nicht einfach, sich hiervon zu lösen, denn zwischen Erhebung zum Kultobjekt, Verriss und Versuchen, die Musik und ihre Aussage zu deuten, gab es wohl schon alles.

Darum will ich mich bei und für diese Rezension einfach einmal von persönlichen Gefühlen leiten lassen.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Gespräch, das ich einmal bei einem Konzert eines Free-Jazz-Musikers belauscht hatte.

Ich bemerkte, dass einige Zuhörer in der Pause fragten, welche konkrete Aussage er denn mit dem, was er da auf der Bühne bot, treffen wolle.

Erstaunt darüber antwortete dieser, er habe gar keine Absicht gehabt, hier konkrete Aussagen, seien es politische oder anderweitig gesellschaftliche, auszudrücken, sondern sein Spiel sei einfach spontan von den Gedanken und Empfindungen geprägt, die er im Augenblick des Spieles habe.

Und wenn der Zuhörer dann die Möglichkeit und „den Draht“ habe, diesen zu folgen, dann könne er auch verstehen, was er ausdrücken wolle.

Diese Aussage habe ich zum Anlass genommen, diese Scott Walker-Musik auf mich einwirken zu lassen, und unter diesem Hintergrund soll diese Betrachtung dann auch erfolgen.

Walker selbst sprach in einem Interview von einem Vergleich der Betrachtungsweise seiner Musik zu Gil Evans, dem großartigen Jazzarrangeur, und bemerkte, dass er, ähnlich wie Evans, möchte, dass das Orchester atmet und den freien Raum nutzt.

Grundsätzlich ist zu dieser Musik anzumerken, dass sie sehr schwer zugänglich ist, da sie von vertrauten Klangmustern abweicht, sich keinen allgemein gängigen Strukturen unterwirft und verstörend wirkt. Zunächst wirkt alles erst einmal sehr düster, sehr morbide, Angst einflößend.

Die Texte wirken auf den Leser dann auch sehr rätselhaft, sehr tiefgründig und lassen viel Raum für individuelle Interpretation.
Meines Erachtens greift Walker hier eindeutig Themen des literarischen Dramas und des Chansons auf.
Hier verarbeitet er verschiedene Themen, z.B. über Bombenkriege oder den Tod von Pasolini, dem italienischen Filmemacher.

Ich habe den Eindruck, dass er seine Texte als „Vehikel“ benutzt, um darauf die Musik spontan aufzubauen, denn nach eigenen Aussagen wurde versucht, das ganze so live wie möglich einzuspielen. Dieses würde auch einen Teil der entstandenen Musik gut erklären.

Doch bevor man sich den Texten zuwendet, wird man von der Musik ergriffen und ich werde einmal „auf diesen Zug aufspringen“ und einige Runden mitfahren.

Zu den Stücken im einzelnen:


Farmer in the city:

"Do I hear 21", unterlegt mit einem drohnenhaften Ton, lässt uns schon sogleich stutzen.
Streicher setzen ein, ich erinnere mich an Sibelius, an Grieg...
SW als Opernsänger? Im Gegensatz zu früher singt er hier jedoch schon eher verhalten, zurückgenommen, bisweilen scheint er einen "Klops im Hals" zu haben.
Hohe Dramatik bestimmt das Stück mit einer doch sehr betonten Ruhe, da die Streicher für mich romantisch verklärt die Stimmung tragen. Das Stück bohrt sich in die Seele, aber angenehm. Es ist plötzlich viel zu kurz, nach 6'37'' beendet.

The Cockfighter:

sehr verstörend, unheimlich, die kämpfenden Hähne scheinen sich voller Unruhe auf ihren Kampf vorzubereiten, bis plötzlich unvermittelt nach 1'25'' schockmässig programmierte "industrial sounds" auf den Hörer lospeitschen. Es folgt eine ruhige Struktur mit dem Rhythmus echter drums, bis es dann wieder losprescht, aber wieder anders, mit Bläsern, die teils dissonant einsetzen. Wieder Ruhe, wieder Unruhe, Stimmen aus dem Jenseits, Sprache, die rückwärts zu laufen scheint. Dann ein Gitarrensolo aus dem Nichts, unerwartete Harmonie einleitend. Aber nicht lange. Eine sehr intelligente Komposition, sehr mitreißend...

Bouncer See Bouncer:

noch "entfernter" von der "Normalität" wird es jetzt. Als Hintergrund eine nervende Pauke, die das Gefühl von Angst und Bedrohung erzeugt. Darüber seltsame Geräusche, von einem "hurdy gurdy" erzeugt. Heuschrecken sollen hier wohl simuliert werden.
Das vielleicht bedrohlichste Stück, zu dem ich am schwierigsten einen Zugang finde.
Eiskalt wirkt das alles, bis sich nach 4'40'' eine Tür zu öffnen scheint und einen paradisischen Augenblick erklingen läßt, bis die böse Pauke wieder kommt und alles zunichte macht.
Angsteinflößend!

Manhattan:

Die mächtige Orgel erinnert an "Archangel" von den Walker Brothers. Dieses Stück scheint sich ständig in Auflösung zu finden, es passiert einiges, afrikanische Rhythmen unterbrechen, das Thema wird wieder aufgenommen, viel Unruhe und Hoffnung scheinen sich hier abzulösen. Ängste, Hoffnungen, die sich dem Einwanderer in Manhattan vielleicht gezeigt haben.(?)

Face on breast:

So könnte auch ein Stück von Peter Gabriel beginnen. Langsam entwickelt sich über Gitarrentönen und dumpfen Trommeln eine Struktur, eine melancholische Stimmung baut sich auf.
Mit diesem Stück kann man sich durchaus "anfreunden" und ich halte es für das zugänglichste der CD.

Bolivia ‘95:

Leicht südamerikanische Klänge zu Beginn, die dann aber wieder einem strikt unflexibel geschlagenen Rhythmus weichen, bis leichte Perkussionsgeräusche das Stück wieder in Schwingung versetzen. Man spürt eine Leichtigkeit, aber auch große Ernsthaftigkeit.
Musikalisch geht das für mich auch wieder in Richtung Peter Gabriel. Relativ zugänglich und weitaus weniger kompliziert als die ersten Stücke der CD.
Es ist auch weniger "verstörend", wenngleich auch ein plötzlicher Wechsel der Stimmung mit "sägender" Gitarre einen die Harmonie sprengenden Wechsel bringt.

Patriot:

Scott's Stimme "schwebt" hier über Streichern. Das kommt wie ein Chanson vom Feinsten.
Ein Stück, daß sich auch abhebt von den übrigen. Hier erlebt die alte "Dramatik" der Walker Brothers für mich eine kleine Renaissance. Zumindest hält dieser Zustand für etwa 2'30'' an, denn dann wird die Harmonie sanft unterbrochen. Aber insgesamt das für mich schönste der CD.

Tilt:

Ein schon fast "normales" Stück. Vielleicht der "Hit" der CD?
Normale Harmonien bestimmen den Ablauf. Ein herrlich verdrehtes Gitarrensolo ist das "Sahnehäubchen". Hier dürfte der Hörer nicht all zu sehr verschreckt werden, wenngleich sicher das übliche Hörverhalten nicht als Maßstab gesetzt werden sollte.

Rosary:

Scott spielt Gitarre, d.h. irgendwie scheint er im Hintergrund "zu klimpern".
Hier wieder der leichte Hauch des Unheimlichen, Düsteren, das Lied treibt.
Zum Ausklang verabschiedet sich Scott mit "...and I gotta quit"....


Ich denke, dass viele, die sich der Platte genähert haben und den Zugang nicht fanden, die Stücke besser in umkehrter Reihenfolge hätten spielen sollen, denn die vielleicht anfänglich verstörende Atmosphäre baut sich nach und nach ab. Man ist hinterher nicht mehr so angestrengt, sondern hat das Gefühl, hier etwas wirklich Außergewöhnliches und Einzigartiges gehört zu haben, dass nach mehr verlangt.
Keine so sperrige Musik, wie hier so oft behauptet wird. Sperrig nur für jene, die sich sperren!

Die Musiker, grundsätzlich auf den Titeln:


· Scott Walker – Vocals
· Ian Thomas – Drums
· John Giblin – Bass
· Brian Gascoigne – Keyboards
· David Rhodes – Guitars ( # 1- 8)

Dazu bei den einzelnen Stücken noch zusätzliche Instrumentierung, siehe hier:


1. Farmer In The City (6:38)
(Arranged By [Strings], Conductor [Strings] - Brian Gascoigne Lute [Chittaroni] - Elizabeth Kenny Oboe - Roy Carter (2) Strings - Sinfonia Of London* )
2. The Cockfighter (6:01)
( Celesta, Organ - Brian Gascoigne Guitar - Hugh Burns Horns, Reeds - Andrew Cronshaw Percussion - Alasdair Malloy , Louis Jardim* )
3. Bouncer See Bouncer… (8:50)
(Clarinet - Roy Jowitt Drum Programming [Prog Bass Drum] - Peter Walsh Flute - Jonathan Snowden Flute [Bass] - Andy Findon* , Jim Gregory (2) Oboe - Roy Carter (2) Orchestrated By [Woodwind], Organ - Brian Gascoigne )
4. Manhattan (6:05)
(Concertina - Andrew Cronshaw Organ - Brian Gascoigne Percussion - Alasdair Malloy , Louis Jardim* )
5. Face On Breast (5:15)
( Drums [Bass Drum On Lap And Kit All At Once] - Ian Thomas Organ [Hammond] - Colin Pulbrook Whistling - Peter Walsh , Scott Walker )
6. Bolivia '95 (7:44)
( Cimbalom - Greg Knowles Guitar - Hugh Burns Percussion - Alasdair Malloy , Louis Jardim* ) Reeds [Ba-wu Flute] - Andrew Cronshaw
7. Patriot (A Single) (8:28)
( Drums [Military Bass Drum], Cymbal - Ian Thomas Orchestrated By [Strings], Conductor [Strings] - Brian Gascoigne Piccolo Flute - Jonathan Snowden Strings - Sinfonia Of London* )
8. Tilt (5:13)
9. Rosary (2:41)
(Guitar - Scott Walker )


Wolfgang
firebyrd
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Re: SCOTT WALKER - Tilt

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Gepostet: 02.07.2009 - 12:48 Uhr  ·  #2
aus aktuellem Anlass noch einmal überarbeitet und HOCH DAMIT!!! :twisted:
freakCha
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Re: SCOTT WALKER - Tilt

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Gepostet: 02.07.2009 - 14:30 Uhr  ·  #3
grandioses album, und "verstörend" ist der richtige ausdruck. wer allerdings den abseitigen momenten von PETER HAMMILL oder DAVID SYLVIAN etwas abgewinnen kann, ist bestens vorbereitet...

freakCha
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Re: SCOTT WALKER - Tilt

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Gepostet: 02.07.2009 - 14:41 Uhr  ·  #4
Zitat geschrieben von freakCha
... wer allerdings...DAVID SYLVIAN etwas abgewinnen kann, ist bestens vorbereitet...

freakCha


Das kann ich durchaus, wie allseits bekannt sein dürfte! Aber diese Scheibe hab ich einmal gehört und war danach - ich kann es auch nicht anders ausdrücken - verstört! Seitdem hab ich eine richtige Aversion (Sorry!) mir das Teil noch mal anzuhören.
Trurl
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Re: SCOTT WALKER - Tilt

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Gepostet: 02.07.2009 - 16:24 Uhr  ·  #5
irgendwie fand ich es gar nicht so "schrecklich", wie es in vielen Rezis beurteilt wurde. Die hatten mich erst etwas abgeschreckt.

Mir gefällt es, ebenso wie "DRIFT". mehr kenne ich allerdings von ihm nicht.

trurl
badMoon
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Re: SCOTT WALKER - Tilt

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Gepostet: 07.07.2010 - 19:39 Uhr  ·  #6
Zitat geschrieben von firebyrd
Zitat geschrieben von badMoon


Oh-ha! Ich werde lauschen.


erst lesen, dann lauschen! 😉


viewtopic.php?t=157&highlight=tilt


Jahaaa, ...gut dass ich gelesen und gelauscht habe. Am Amazonas freut man sich über ein paar güldene Münzen mehr in der Kasse!

Klasse Rezi, Herr Feuervogel, thx.

:daumen:

(die Scheibe erinnerte mich im ersten Moment ein wenig an Antony And The Johnsons)
nobbygard
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Re: SCOTT WALKER - Tilt

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Gepostet: 10.07.2010 - 13:37 Uhr  ·  #7
Ich habe mich immer für die ersten Solowerke nach dem Split der Walker Brothers begeistern können, aber die "Spätwerke haben mich offensichtlich noch nie in der richtigen Stimmung erwischt, werde mal Wolfgangs Rat befolgen und demnächst mit so eine freejazzigen Intention lauschen.

Der Vergleich mit David Sylvan passt - Dan hat ja mal versucht DS mir nahe zu bringen, ist voll daneben gegangen - das geht gar nicht in meine Ohren!

Ansonsten, wie immer, eine sehr persönliche und wohlgestaltete Rezension!

Nobby
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