Natalie Merchant - Ophelia

 
caramel
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Natalie Merchant - Ophelia

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Gepostet: 28.02.2025 - 12:26 Uhr  ·  #1
Natalie Merchant hat für mich eine der schönsten weiblichen Stimmen - berührend und ausdrucksstark.

Die musikalische Karriere der amerikanischen Singer-Songwriterin begann 1981 mit Gründung der Folk-Pop-Band 10,000 Maniacs. 1993, noch bevor das vielbeachtete Live Album der Band "MTV Unplugged" erschien, verließ sie die Maniacs, um ihre Solokarriere voranzutreiben.

Ab diesem Zeitpunkt wurde sie interessant für mich.

Die ersten 3 Solo-Alben, Tigerlily (1995), Ophelia (1998) und Motherland (2001) stehen hier und begeistern mich noch heute.

Ihr zweites Album ist, Zitat: "dem visionären Dichter Allan Ginsberg" gewidmet und trägt den Namen einer tragischen Frauenrolle aus Shakespeares Drama Hamlet: "Ophelia".

Wir hören auf "Ophelia" eine Sammlung intensiver Balladen. Merchant spielt Klavier, Wurlitzer und Hammond. Sie wird unterstützt von einer Vielzahl von Musikern, aber über all dem schwebt immer ihre wundervolle sanfte Stimme. Sie hat alle Songs selbst geschrieben. Einzig das letzte Stück When They Ring the Golden Bells, ein altes amerikanisches christliches Lied aus dem 19. Jahrhundert, wurde für das Album neu arrangiert.

Natalie Merchant - Ophelia - 1998

Unzählige Male wurde der Ophelia auf Theaterbühnen, im Kino oder auf Leinwand ein Denkmal gesetzt. Schon häufig wurde sie besungen, so auch auf diesem Album. Gleich zu Beginn hören wir den Titelsong, definitiv kein Gute-Laune-Song, sondern ein sentimentaler, nachdenklich stimmender. In Anlehnung an die naive, gehorsame, verzweifelte und doch starke Ophelia aus Hamlet werden verschiedene weibliche Charaktere zum Leben erweckt. CD-Cover und Booklet zeigen Merchant in diesen verschiedenen Rollen, als Braut Gottes, Rebellenmädchen, Geliebte, Halbgöttin, Zirkuskönigin oder als Mutter. Wunderbar ruhig, fast hypnotisch, entwickelt sich der Song, um dann ganz langsam, ausgeblendet zu werden, Zum Ende hört man zu düsteren Tönen ganz leise weibliche Stimmen in fremden Sprachen.
Eigens zu dem Song wurde als visuelle Begleitung ein Kurzfilm in Art eines Stummfilms gedreht.

Life Is Sweet, das Leben ist süß, und dieser Song ist bittersweet. Ein Lied, das wohl allen traurigen Mädchen gewidmet ist. Mädchen, die mit verbitterten Müttern und eisernen Vätern aufwachsen. Eltern die ihren Töchtern erzählen, dass "das Leben hart ist|Elend von Anfang an|langweilig und schmerzhaft". "Tried to comfort you", Merchant versucht zu trösten: "Ich sage dir, das Leben ist süß, trotz des Elends|Es gibt noch so viel mehr, sei dankbar". Der Song baut sich langsam auf, wird immer intensiver. Das Piano und vor allem die Streicherabteilung rollen hier einen Klangteppich aus, sodass es schon fast kitschig wird. Wichtigstes Instrument für mich aber ist die Stimme. Der Gesang ist ausdrucksstark, intensiv und unter die Haut gehend.

Kind & Generous war die erste Singleauskopplung und recht erfolgreich in Nordamerika. Eine eingängige, fast fröhliche Melodie zum Mitsingen.

Mit Frozen Charlotte geht es wieder ruhig weiter, ein Song zum Zurücklehnen.

My Skin fängt etwas schleppend an, spätestens aber, wenn das Piano und später das Cello einsetzt, wird es einfach schaurig schön. Der eindringlich vorgetragene Song richtet sich an Frauen, die den Verlust der Jugend betrauern: "Schau dir meinen Körper an|Schau dir meine Hände an|Ich bin die langsam sterbende Blume|Süß wird sauer und unberührbar". Das Lied lebt von der Stimme, die zwischen zurückhaltend und kraftvoll wechselt. Die Melodieführung ist recht einfach, düster, traurig, aber auch das macht diesen Song so intensiv. Jede Klaviernote klingt wie eine Träne.

Mit Break Your Heart wird es zwar etwas flotter, aber Optimismus wird dadurch nur vorgetäuscht. Auch die schöne Trompeten- und die sanfte Streicherbegleitung stehen im Widerspruch zu dem Text, der sich mit dem Leid und der Traurigkeit der heutigen Gesellschaft befasst: "Menschen kämpfen|Menschen streiten für die einfachen Freuden in ihrem Leben|Der Ärger kommt von überall, es ist etwas mehr, als du ertragen kannst|Ich weiß, dass es wehtun wird|Ich weiß, dass es dir das Herz brechen wird|Menschen oberflächlich, selbstsüchtig, sie drängeln und schieben, um ihre Belohnung zu erhalten|Wenn sie nichts anderes im Kopf haben|Menschen rücksichtslos, Menschen grausam|Der Schaden, den manche Menschen anrichten|Voller Hass, voller Stolz|Es reicht aus, um den Verstand zu verlieren."
Das Lied endet aber nicht in völliger Hoffnungslosigkeit sondern mit der Aufforderung, weiterzumachen und nicht zu verzweifeln: "Mache nicht die gleichen Fehler mit deinem eigenen Leben|Sei nicht respektlos gegenüber dir selbst|Verliere nicht deinen Stolz|Und denke nicht, dass alle so sind."
Nebenbei: Das Video zum Lied wurde im legendären Chelsea Hotel gedreht.

Für mich der stärkste und zugleich berührendste Titel ist King of May. Der Song ist eine Hommage an Allen Ginsberg, der Merchants Arbeit stark beeinflusst hat. Ginsberg starb 1997, ein Jahr vor der Veröffentlichung des Albums. 1965 wurde er in Tschechien auf dem durch das kommunistische Regime verbotene studentische Maifest (Majáles) zum traditionellen Majáles-König gewählt.
Die Streicher leisten hier wieder eine tolle Arbeit, und Natalie Merchant singt wunderschön, dieses Mal lauter und eindringlicher.

Thick as Thieves ist für mich ein weiteres Glanzstück auf dem Album, obwohl ich nur erahnen kann, worum es in dem Lied geht. Ich vermute, dass hier der blinde Glauben der Menschheit an die grausamen, furchteinflößenden biblischen Geschichten aus der Bibel, insbesondere dem Alten Testament, angesprochen wird. Die Menschheit pflegt diesen Glauben immer weiter und ist doch dabei, sich selbst zerstören.
Die Klasse des Gesangs kommt bei Thick as Thieves besonders gut zum Ausdruck, das Spiel mit laut und leise, der Wechsel der verschiedenen Tempi. Stimme, Piano und Cello verschmelzen hier regelrecht zu einem Klagelied. Genial ist die aggressive, zornige Begleitung durch die verzerrte Gitarre, die von Daniel Lanois beigesteuert wird.

Mit Effigy folgt ein kürzeres Lied, nur Gesang, Piano und Orgel. Wunderbar, der unterstützende Gesang der tibetischen Sängerin Yungchen Lhamo. So kurz dieser Song ist, so eindringlich ist er.

The Living ist eine wundervolle Ballade mit sparsamer Instrumentierung. Ein bedrückender Text eines desillusionierten Menschen, der Trost im Alkohol gesucht hat und des Lebens müde ist.

Das Album schließt mit einem Cover von When They Ring The Golden Bells, bei dem Merchant im Duett mit Karen Peris singt, deren Stimme mir so gar nicht gefällt. Trotzdem ist es ein schöner Abschluss, da es nach all der Düsternis und Schwere der vorangegangenen Themen Hoffnung aufkeimen lässt - Hoffnung auf einen schönen, reinen Himmel, der alle Christen nach diesem Leben erwartet.

Als Hidden Track folgt in Form eines klassischen Instrumentalstücks eine Reprise des Songs Ophelia.

Das Album landete auf Platz 8 der Billboard-Album-Charts und ist sicher kein Konzeptalbum im typischen Sinne, auch wenn sich einige Songs mit der Rolle der Frau, deren Selbst- aber auch deren Fremdwahrnehmung befassen. So spricht die Musik wohl in erster Linie auch Frauen an, was Männer nicht hindern sollte, einmal ein Ohr zu riskieren.
holger_fischer
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Re: Natalie Merchant - Ophelia

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Gepostet: 05.03.2025 - 20:37 Uhr  ·  #2
Vielen Dank für die Rezi. Kannte ich natürlich wieder mal nicht. Sehr ausdrucksstarke Stimme! Aber die Musik trifft nicht so meinen Geschmack. Das ist mir zu getragen. Ich werde dabei das Gefühl nicht los, dass man mit einem Bein im Grab steht :-). Das muss noch nicht sein. Später mal. Unausweichlich.
caramel
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Re: Natalie Merchant - Ophelia

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Gepostet: 05.03.2025 - 21:41 Uhr  ·  #3
Zitat geschrieben von holger_fischer

Vielen Dank für die Rezi. Kannte ich natürlich wieder mal nicht. Sehr ausdrucksstarke Stimme! Aber die Musik trifft nicht so meinen Geschmack. Das ist mir zu getragen. Ich werde dabei das Gefühl nicht los, dass man mit einem Bein im Grab steht :-). Das muss noch nicht sein. Später mal. Unausweichlich.

Holger, Danke für die Rückmeldung.
Dein Kommentar lässt mich gerade etwas schmunzeln. Liest sich irgendwie witzig und nett, auch wenn die Musik dir nicht zusagt... Es hätte mich aber auch gewundert, wenn das "deine" Musik gewesen wäre.
holger_fischer
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Re: Natalie Merchant - Ophelia

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Gepostet: 07.03.2025 - 18:09 Uhr  ·  #4
Zitat geschrieben von caramel

Zitat geschrieben von holger_fischer

Vielen Dank für die Rezi. Kannte ich natürlich wieder mal nicht. Sehr ausdrucksstarke Stimme! Aber die Musik trifft nicht so meinen Geschmack. Das ist mir zu getragen. Ich werde dabei das Gefühl nicht los, dass man mit einem Bein im Grab steht :-). Das muss noch nicht sein. Später mal. Unausweichlich.

Holger, Danke für die Rückmeldung.
Dein Kommentar lässt mich gerade etwas schmunzeln. Liest sich irgendwie witzig und nett, auch wenn die Musik dir nicht zusagt... Es hätte mich aber auch gewundert, wenn das "deine" Musik gewesen wäre.


Hallo Christa,
das wollte ich auch so verstanden wissen :-). Humor kommt hier manchmal etwas zu kurz. Es gibt ohnehin in der Musik kein gut oder schlecht, lediglich gefällt oder eben nicht so. Reine Bauchsache. Da muss man sich nicht mit Leichenbittermiene ereifern. Es ist einfach die schönste Nebensache der Welt.
Singer/Songwriter sind tatsächlich nicht so meine Baustelle. Das kling für mich oft so eingeengt. Sound of Silence von Simon and Garfunkel dagegen und Folk/Folk-Rock, wie Steeleye Span oder Pentangle, finde ich sehr gut.
hmc
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Re: Natalie Merchant - Ophelia

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Gepostet: 24.03.2025 - 15:53 Uhr  ·  #5
Wunderbare Rezi, die ich fast teile.
Holger sieht es etwas düsterer als ich; schon tragend, aber bei passender Stimmung macht ihre Musik viel Spaß.
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