Die 80er waren für mich eigentlich ein sehr spannendes Jahrzehnt. Die Schulzeit trudelte ihrem Abschluss entgegen, nach dem Abitur 1984 hieß es raus aus der gemütlich eingerichteten Schulblase raus in den harten Alltag. Das bedeutete damals noch Bundeswehr oder Zivildienst.
Für mich kam definitiv der Bund nicht in Frage, mein Jahrgang hatte den Vorteil, dass das „Verweigern“ nicht mit hochnotpeinlichen Befragungen von sich ging und auf schriftlichem Wege erledigt werden konnte. Als Gegenleistung kam man dann in den „Genuss“ von 30 Monaten Zivildienst (die längst mögliche Dauer in der Geschichte dieses Dienstes am Staat).
In meinem Fall hieß das dann Altenpflegeheim und weg von zu Hause. Damals gab es in der Altenpflege noch Zivis und FSJler (Freiwilliges Soziales Jahr, zumeist weiblich), die theoretisch zwar zusätzlich zum mehr oder weniger ausgebildeten Personal laufen sollten, aber in der Realität die Pflegekräfte – bis auf medizinische Verrichtungen oder Arztvisiten – nahezu 1:1 ersetzen mussten. Somit war man ruck zuck im kalten Wasser der „Erwerbstätigkeit“ und das mit mitunter gar nicht so schönen Aufgaben.
Gleichzeitig lernte man endlich das „richtige Leben“ kennen, traf jede Menge interessante Leute und war endlich auch in der Großstadt angekommen – in meinem Fall Stuttgart. Nach dem Zivildienst dann zügig das Studium und wieder eine ganz andere Baustelle mit ganz neuen Bekanntschaften.
Musikalisch waren die 80er allerdings ziemlich finster für mich. Ok, in Stuttgart konnte man natürlich noch Live-Musik erleben, zumeist dann aber von nicht mehr ganz frischen Acts (Luther Allison, Grobschnitt, Grachmusikoff, Bruce Cockburn fallen mir so spontan ein), aber aktuelle Musik? Ich hielt mich halbwegs mit Funkigem über Wasser wie Level 42, Fritz Brause, Slickaphonics, Was (Not Was), Shakatak. Aber sehr viel vom damaligen Fließband Pop (Stock Aitken Waterman), vieles von New Wave, Synthie Pop oder gar NDW ließen mich schaudern.
Rockmusik schien mit Ablauf der 70er Jahre ohnehin tot zu sein.
Zufällig stieß ich dann, vermutlich über MTV auf einen Herrn namens Thomas Morgan Robertson, der von seinen Freunden rasch den Spitznamen Thomas Dolby verpasst bekam und diesen auch beibehielt. „Dolby“ natürlich wegen seiner Vorliebe für Soundspielereien und elektronische Gimmicks. Der im Londo0ner Stadtteil Hammersmith 1958 geborene Musiker hatte nämlich dank Kraftwerk, Brian Eno oder auch Van Der Graaf Generator sein Faible für elektronische Klänge entdeckt und sich, auch dank einer Vorliebe für erinnerungswürdige Videos, als „Funky Mad Scientist“ des Elektropop inszeniert. Jedenfalls war die Single „She Blinded Me With Science“ von 1982 sein größter Chartserfolg, insbesondere in den USA (Platz 5).
Video „She Blinded Me With Science“:
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=V83JR2IoI8k
Da ich damals noch Musikmagazine las, oder jedenfalls Magazine, die sich auch mit Musik und Kultur beschäftigten (bevorzugt: Musik Express, Tip Magazin, später Visions) stieß ich dort auf ziemlich wohlwollende bis begeisterte Kritiken des 1984er Albums „The Flat Earth“ von Dolby.
Also ab und das Teil auf Vinyl besorgt. Und diese Scheibe sollte wirklich ein langjähriger Begleiter werden und – oh Wunder – man kann sie auch heutzutage immer noch gut anhören ohne ein Gefühl von angesetzter Patina oder gar Fremdscham zu empfinden.
Schon der elegant funkige Opener „Dissidents“ (mit dem kongenialen Partner Dolbys, dem leider letztes Jahr verstorbenen Matthew Seligman am Bass) macht deutlich, dass hier nicht mehr viel übrig ist vom flippigen, fiepsigen „Mad Scientist“, sondern sich ein gereifter, nachdenkliche Musiker zeigt, der sich auch textlich als erdverbunden, der Natur zugewandt und insgesamt ziemlich entschleunigt präsentiert.
Video „Dissidents“:
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=YMq5QNAl2nE
So sind auch das Titelstück und „Screen Kiss“ mit ihrem ruhigen, aber stetigen Groove und ihrer Entrücktheit gute Beispiele für die exquisiten Klanglandschaften, die Mr. Dolby bereithält.
Audio Video „The Flat Earth“:
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=S5cWMF46jwo
Audio Video „Screen Kiss“:
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=AbhKrYBoCGE
Danach kommt das flirrende, fiebrige „White City“ die musikalische Hymne an Milton Keynes als Musterexemplar einer modernen und seelenlosen Großstadt.
Audio-Video „White City“:
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=fMBv2gqwfVk
Auch das musikalisch leicht verschrobene „Mulu The Rain Forest“ ist so atemberaubend wie das Thema des Songs – Mulu ist ein geschützter Regenwald im malayischen Teil von Borneo, voller Höhlen, Amphibien, Fledermäusen und natürlich uralten Bäumen. Hier ist Dolby der seiner Zeit vorschreitende Ökoaktivist.
Video „Mulu The Rain Forest“:
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=254DG87ZuRQ
Und schon folgt ein nächstes Highlight – der einzige Song auf dem Album, der nicht aus der Feder von Thomas Dolby stammt. „I Scare Myself“, ursprünglich eine Country-Ballade von Dan Hicks. Hier mutiert das Stück zum relaxten jazzig angehauchten Bar-Rausschmeißer zur blauen Stunde.
Video „I Scare Myself“:
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=jUHYLBxmUEw
Und ganz am Ende kommt dann doch noch mal der „Funky Mad Scientist“ hervorgeschossen. Die Single „Hyperactive“ macht ihrem Namen alle Ehre und featured unter anderem die großartige Adele Bertei an den Vocals. Das Video dazu mit dem typischen Dolby-Humor darf man nicht verpassen.
Video „Hyperactive!“:
Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=rmGxh1FhtxE
„The Flat Earth“ ist das absolute Meisterwerk von Thomas Dolby, der sich dann Ende der 80er Jahre mehr darauf konzentrierte, Filmmusik zu komponieren, als Produzent zu arbeiten (zum Beispiel für Prefab Sprout), Hard- und Software zu entwickeln und eine Familie zu gründen.
Seit Mitte der 2000er Jahre zeigt sich Dolby hin und wieder auf der Bühne, aber das Schaffen neuer Musik steht nicht mehr im Fokus.
Dennoch bleibt „The Flat Earth“ für mich eine Inselplatte, da sie eine ausgewogene Mischung aus Groove und Atmosphäre, Funkiness und Melancholie, Leichtigkeit und Anspruch bereit hält und musikalisch ganz neue Wege beschritten hat. Und das alles in exquisite Sounds und geschmackssichere Arrangements gegossen, die, wie schon ausgeführt, die mittlerweile vierzig Jahre, die zwischenzeitlich vergangen sind, unbeschadet überstanden haben.
Thomas Dolby
The Flat Earth, EMI Records, 1984
Thomas Dolby Lead Vocals, Keyboards, Effects
Matthew Seligman Bass
Kevin Armstrong Guitar, Trumpet & Backing Vocals
Peter Thoms Trombone
Cliff Bridgen Drums, Computer & Percussion
Adele Bertei Backing Vocals
Lester Fairbairn Backing Vocals
Bruce Woolley Backing Vocals
Spieldauer:37:25 Minuten
01. Dissidents
02. The Flat Earth
03. Screen Kiss
04. White City
05. Mulu The Rain Forest
06.I Scare Myself
07. Hyperactive!