Tom Waits - Closing Time | 1973

 
badMoon
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Tom Waits - Closing Time | 1973

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Gepostet: 29.09.2023 - 17:13 Uhr  ·  #1
Wenn aus meiner Playlist ein Song eines bestimmten Künstlers aus den Boxen perlte und eine spezielle Bekannte anwesend war, gab es unvermittelt spöttische Bemerkungen. Begleitet von Augenrollen, an mich gerichtetes mitleidiges Lächeln und meist auch den Kommentar "...der kann doch gar nicht singen". "Stimmt", dachte ich regelmäßig, wenn diese Reaktionen erfolgten, "ebenso wenig wie Dylan, Springsteen, Coyne oder andere Barden, die sich in diese Riege der Nicht-Stimmakrobaten einreihen dürfen". "Aber er komponiert einfach traumhafte Melodien", sagte ich jedesmal als Erwiderung auf diesen Verbalangriff.

Die Rede ist an dieser Stelle von niemand anderem als von Tom Waits. Natürlich würde eine Opernsängerin wie Montserrat Caballé keinen Waits neben sich dulden - da muss schon ein Freddy Mercury her. Aber - dies wäre auch gar nicht die Umgebung, in der man sich einen Tom Waits vorstellen könnte. Dieser knarzige Typ, auf der Bühne meist in scheinbarer Second-Hand-Garderobe, Zigarette im Mundwinkel und tief in das Gesicht geschobenem Hut auftretende Künstler dürfte sich eher in heruntergekommenen Spelunken unter Loosern, Melancholikern oder einsam vor sich hinsinierenden Gestalten wohlfühlen. So passt auch treffend ein Zitat über sich selber zu seinen Texten über meist verlorene Typen, unglückliche Beziehungen, Huren und Spielern oder Orten, an denen sich eigentlich niemand aufhalten möchte. Als ehemaliger Türsteher im Nightclub Heritage verarbeitete er aufgeschnappte Wortfetzen in seinen Songs und nannte sich daher selber "Privatdetektiv der Nacht". Fast möchte ich wetten, dass einige dieser Wortfetzen auf seinem Debütalbum zu finden sind.

Tom Waits - Closing Time |USA 1973 |Folkrock, Folk, Blues, Jazz

Auf "Closing Time" wie auch auf einigen Folgealben ist Waits noch mit seiner "reinen" Stimme zu hören. Später wandelte er diese gekonnt in seinen typischen, kehligen Pressgesang, welcher neben seinen speziellen Bühnenperformances als sein Markenzeichen gelten dürfte. "Closing Time" wurde auf Asylum Records veröffentlicht und produziert von Jerry Yester (THE LOVIN' SPOONFUL).

Das Cover zeigt einen Waits - ganz im Geiste seiner Songs - der verloren und nachdenklich scheinend am leicht schäbigen Piano hockt, darauf abgestellt eine Flasche wohl hochprozentigen Inhalts. Was das Cover verspricht, wird die Musik auch halten - verloren wirkende, melancholische Lieder bereits erwähnter Typen und Lebensumstände.

In dem Opener ---> Ol '55, mittlerweile zu einem der vielen seiner Klassiker avanciert, sinniert Waits über den Abschied von einer Beziehung und der ungewissen Reise in eine unbestimmte Zukunft - natürlich melancholisch untermalt hauptsächlich von Piano und Streichern. Dieser Song wurde übrigens erstmals von THE EAGLES gecovert (---> EAGLES - Ol'55). Dies schien Waits nicht davon abzuhalten, über THE EAGLES das wenig charmante Statement "Ich kann die Eagles nicht ausstehen. Sie zu hören ist ungefähr so aufregend wie zuzusehen, wie Farbe trocknet" rauszuhauen. Vielleicht lag es daran, dass er die Coverversion der Eagles nicht mochte. Apropos Coverversionen - keiner der auf diesem Album vorhandenen Songs wurde nicht von anderen Künstlern übernommen.

Nachdem Waits, wie auch auf Ol'55, den zweiten Song mit "One, Two, Three, Four" angezählt hat, startet ---> I Hope That I Don't Fall In Love With You. Ein Lied über einen Mann, der hin- und hergerissen ist zwischen der Entscheidung, sich auf eine Liebe einzulassen oder aus Angst vor eventuellem Schmerz und Enttäuschung, die eine Liebe mit sich bringen kann, sich dagegen entscheidet. Auch hier gibt es eine sehr schöne Coverversion des Countrysängers Rodney Hayden (---> Rodney Hayden - I Hope That I Don't Fall In Love With You).

Neben diesen beiden Songs gehört das alles überstrahlende ---> Martha zu meinen Lieblingsstücken des Albums. Begleitet von einem leiernden Klavier singt sich Waits den Schmerz aus der Seele. Kaum zu glauben, dass jemand mit gerade einmal 23 Jahren einen solchen Text, ein solches Lebensgefühl hinlegen kann. Nach 40 Jahren erinnert sich ein Mann schmerzvoll an seine alte Liebe, ruft sie an und bittet sie unter Tränen, sich noch einmal mit ihm auf einen Kaffee zu treffen und sagt "And those were the days of roses, poetry and prose / And, Martha, all I had was you, and all you had was me" (Das waren die Tage der Rosen, der Poesie und der Prosa, und, Martha, alles, was ich hatte, warst Du, und alles, was Du hatte, war ich). Ein ergreifend schöner Song - der natürlich auch (nicht nur einmal) gecovert wurde (---> Tim Buckley - Martha).

Herrlich diese gedämpfte Trompete auf dem dahinschlendernden Blues ---> Virginia Avenue. Das scheinbar verstimmte Klavier fehlt hier ebenso wenig wie eine Coverversion mit fein leiernder Orgel (---> Knoxville Girls - Virginia Avenue).

Neben all den weiteren mehr oder wenig melancholischen, nach Einsamkeit klingenden Liedern wirkt das schmissig swingende ---> Ice Cream Man schon fast fehl am Platze - sorgt allerdings für ein wenig Erlösung nach all der Schwermut. Eine Steilvorlage für eine weitere Coverversion (---> Screamin Jay Hawkins - Ice Cream man).

Um die Erinnerung an dieses Albums jedoch mit einer Ballade abzuschließen, sei noch ---> Grateful Moon erwähnt. Eine Melodie, die fast dazu angetan ist, in eigentlich nicht vorhandenen Erinnerungen zu schwelgen und sich ganz seinem Blues hinzugeben. Irgendwie scheint es Waits zu verstehen, jeden auf seinen Reisen mitzunehmen - je nach Stimmung, in der man sich natürlich gerade befindet. Aber - in bester Laune wird dieses Album sicher nicht den Weg auf respektive in den Player finden. Achso, ...die Coverversion. Natürlich ist auch diese vorhanden (Nanci Griffith - Grapefruit Moon).

"Closing Time" darf zweifelsohne als ein Klassiker des Singer-Songwriter-Genres bezeichnet werden. Gespickt mit melancholischen und berührenden Texten sowie vorgetragen mit seiner einzigartigen Stimme ist es ein Album bestehend aus einer perfekten Mischung aus Jazz, Blues, Folk und Rock. Die Anzahl der zu findenden Coverversionen deutet auf den großen Einfluss, den Waits auf spätere Künstler bis heute hat. "Closing Time" darf als ein zeitloses und beeindruckendes Werk von Tom Waits und als ein hervorragendes Debüt angesehen werden.


[Die Musiker]

* Tom Waits – vocals, piano, guitar, harmonium, harpsichord, celeste
* Delbert Bennett – trumpet
* Shep Cooke – guitar, backing vocals on "Old Shoes (& Picture Postcards)"
* Peter Klimes – guitar, pedal steel guitar on "Rosie"
* Bill Plummer – double bass
* John Seiter – drums; backing vocals on "Ol' 55" and "Rosie"

Gastmusiker

* Arni Egilsson – bass guitar on "Closing Time"
* Jesse Ehrlich – cello on "Martha"
* Tony Terran – trumpet solo on "Closing Time"

[Die Songs]

01 - Ol' '55 - 3:55
02 - I Hope That I Don't Fall In Love With You - 3:52
03 - Virginia Avenue - 3:22
04 - Old Shoes (& Picture Postcards) - 3:41
05 - Midnight Lullaby - 3:10
06 - Martha - 4:26
07 - Rosie - 3:56
08 - Lonely - 3:11
09 - Ice Cream Man - 3:05
10 - Little Trip To Heaven (On The Wings Of Your Love) - 3:55
11 - Grapefruit Moon - 4:46
12 - Closing Time - 3:58
Mr. Upduff
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Re: Tom Waits - Closing Time | 1973

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Gepostet: 29.09.2023 - 17:25 Uhr  ·  #2
... ein verschrobener Musiker. mit seinem tom/llen Debutstudiodoppelalbum... leider blieb beim Bad der Grapefull Moon außen vor ...s/mein (Mit) Heullied...eine Melodie zum Niederknien...
firebyrd
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Re: Tom Waits - Closing Time | 1973

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Gepostet: 29.09.2023 - 17:44 Uhr  ·  #3
ein großartiges Debüt!

Diese sehnsüchtige Melancholie, die sich wie ein Schatten durch die Songs zieht, wirkt dennoch nie deprimierend, sondern lässt Gefühle entstehen, oder sie werden erweckt, die sich rasch mit der Musik verbinden...

Waits hat großartige Songs geschrieben, er ist Einer, den man zu den Einzelgängern, zu den Besonderen zählen muss, Einer, der nie in der Masse der Gleichklingenden mitschwamm. Einer von Jenen, die es heute kaum noch gibt, weil ganz andere Anforderungen gestellt werden, die Mr. Waits immer mehr in eine ungeliebte Ecke drängen...
Mr. Upduff
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Re: Tom Waits - Closing Time | 1973

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Gepostet: 29.09.2023 - 17:53 Uhr  ·  #4
Zitat geschrieben von Mr. Upduff

... ein verschrobener Musiker. mit seinem tom/llen Debutstudiodoppelalbum... leider blieb beim Bad der Grapefull Moon außen vor ...s/mein (Mit) Heullied...eine Melodie zum Niederknien...

Edit: danke... durch deinen Nachtrag ist dir nun nichts mehr nachzutragen...(nun) eine rundum gute Rezi
hmc
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Re: Tom Waits - Closing Time | 1973

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Gepostet: 03.10.2023 - 10:20 Uhr  ·  #5
Der Mann ist bei mir noch nicht vertreten.
Sollte ich ändern.
Trurl
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Re: Tom Waits - Closing Time | 1973

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Gepostet: 03.10.2023 - 12:35 Uhr  ·  #6
schöne Rezi, bei mir leider vergeblich 8)
Von ihm steht hier nix und so wird es auch bleiben; mir tut die Stimme einfach nur weh und die Musik ist mir zu gefühlig-triefend, zu amerikanisch, da fehlen mir Ecken und Kanten. Es war mir zu anstrengend, mich zumindest einmal durch das Album zu hören.

trurl
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Re: Tom Waits - Closing Time | 1973

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Gepostet: 03.10.2023 - 12:46 Uhr  ·  #7
Zitat geschrieben von Trurl

schöne Rezi, bei mir leider vergeblich 8)
Von ihm steht hier nix und so wird es auch bleiben; mir tut die Stimme einfach nur weh und die Musik ist mir zu gefühlig-triefend, zu amerikanisch, da fehlen mir Ecken und Kanten. Es war mir zu anstrengend, mich zumindest einmal durch das Album zu hören.

trurl


Ecken & Kanten? :D

Hier? :

Eingebettetes Medium: https://www.youtube.com/watch?v=C7I4kSpS43o

vom eckigen und kantigen Album "Bone Machine"......
badger
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Re: Tom Waits - Closing Time | 1973

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Gepostet: 03.10.2023 - 15:12 Uhr  ·  #8
ein sehr schönes debut, bei dem Tom sich allerdings stimmlich und stilistisch
noch so zurückhielt, daß die 'kann-nicht-singen'-kritik nirgends nachvollziehbar
ist. etwas dahingeraunt klingt er vielleicht, ein cocktail-bar-pianist, dessen stimme
nach ein paar zu vielen zigaretten und whiskeys klingt, während er seine melancholischen
spät-nachts-stimmungsbilder kreiert. meist etwas jazzy im nachtclub-stil, gelegentlich
flotter und für einen augenblick sogar etwas funky.

selbst die streicher, die man jedem anderen übel genommen hätte, lassen sich hier gut
ertragen; also kein gematsche und ein paar allzeit-favoriten wie I Hope That I Don't Fall In Love With You,
Old 55 oder Ice Cream Man wurden auch schon eingespielt.

Tom ist natürlich auch ein schauspieler und seine gesamte präsenz wurde dann mit jeder
weiteren scheibe stylistisch (und damit auch stimmlich) mehr und mehr durchkalkuliert;
er schuf sich dieses ego des versoffenen mitternachtswanderers der durch schon halb-
geleerte clubs wanderte..., nun ja, das war halt sein film und mir gefiel es... 16 oder 17 cds
lang.

seine höhepunkte (für mich): neben dem hier vorgestellten debut; Nighthawks At The Diner;
Swordfishtrombones; Rain Dogs; Franks Wild Years und Bone Machine.

sehr schöne rezi, nicht nur textlich, sondern auch genremäßig!
Trurl
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Re: Tom Waits - Closing Time | 1973

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Gepostet: 03.10.2023 - 22:16 Uhr  ·  #9
Zitat geschrieben von firebyrd

Zitat geschrieben von Trurl

(…), da fehlen mir Ecken und Kanten.

trurl


Ecken & Kanten? :D

Hier? :

(..)

vom eckigen und kantigen Album "Bone Machine"......


Wo sind die? Ich höre nur simples Holzgeklapper und ne Stimme, die völlig besoffen klingt.

Trurl
hmc
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Re: Tom Waits - Closing Time | 1973

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Gepostet: 04.10.2023 - 16:27 Uhr  ·  #10
Interessant das er doch leicht polarisiert.
Auf Grund der doch überwiegenden positiven Texte, werde ich den Mann genauer unter die Lupe nehmen.
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