Ursprüngliches Vinyl-Cover bei JMT
Cover Re-Release auf CD bei Winter & Winter
Heute kehre ich mal in meine Tübinger Studienzeit zurück, genauer in die absoluten Anfänge davon. Meinen damaligen besten Freund und Kommilitone habe ich nämlich tatsächlich am allerersten Tag kennengelernt. Wir standen beide vor dem falschen Hörsaal für eine Erstsemester-Vorlesung. So etwas schweißt natürlich zusammen, zumal wir recht schnell gemeinsame Musik-Vorlieben ausmachten. Nämlich moderner Jazz, je „schwärzer“ desto besser, also durchaus mit Groove und Funk versehen. Wir schrieben das Jahr 1986, da war der Classic Rock ziemlich tot, mit Punk oder Wave konnten wir auch nichts anfangen, dafür sehr viel mit Miles Davis. Der hatte sich nach seinem Comeback in den frühen 80ern live ja etwas rar gemacht, so dass wir ihm regelrecht hinterherreisen mussten – zu Konzerten nach Hamburg und zum North Sea Jazz Festival nach Den Haag. Am Ende trat der gute Miles aber auch noch in Tübingen auf…
Aber zurück zu meinem Kumpel Martin (Zitat: „Wenn man sich ausführlich mit Musik beschäftigt, landet man irgendwann zwangsläufig beim Jazz“) und mir. Wir jagten aufregenden Neuerscheinungen hinterher, so gut das eben in der schwäbischen Provinz im Prä-Internet-Zeitalter ging. Irgendwie fiel mir das zweite Album des New Yorker Altsaxophonisten Steve Coleman in die Hände und das sollte nicht nur sofort einschlagen sondern auch ein langjähriger Begleiter werden.
Denn der 1956 in Chicago geborene und seit den frühen 70ern in New York wohnende Coleman hat nicht nur ein illustre Schar an jungen, hochbegabten Musikern um sich versammelt sondern mit „On The Edge Of Tomorrow“ ein Album vorgelegt, dass auf ebenso revolutionäre wie schlüssige Weise Jazz, Funk, Hip Hop, Soul und Avantgarde miteinander verband.
Coleman, der von Charlie Parker, Sonny Rollins, John Coltrane, vor allem aber von Von Freeman, Sam Rivers und Doug Hammond beeinflusst worden war, hält hier nicht nur wie ein Bandleader die Fäden zusammen, sondern glänzt immer wieder durch sein ebenso virtuoses wie cooles Saxophonspiel und seine frischen Ideen. Er lässt seinen Mitstreitern nicht nur reichlich Freiraum, sondern gleicht sich jeweils deren stilistischen Eigenheiten an, ohne den Faden zu verlieren. Seit den frühen 80er Jahren hat er sich mit afrikanischer Kultur beschäftigt, was seine Musik weltoffen macht, die aber dennoch fest im zeitgenössischen New York verankert scheint.
Sein kongenialer Partner ist sein Buddy Graham Haynes, mit dem er viele Jahre zuvor schon Straßenmusik gemacht hat und der mit der Trompete einen solistischen Gegenpart zu Colemans warmen, akzentuierten Saxophonklängen bildet.
Mit im Ensemble sind zwei ganz starke Frauen: Cassandra Wilson mit ihrem betörend dunkel-samtigen Timbre und Geri Allen, die mit mal seidigen, mal scharfkantigen Synthiesounds Akzente setzt.
Dazu kommen noch Kevin Bruce Harris am Bass als Pendler zwischen Jazz und Free Funk und das dynamische Perkussionduo Marvin Smith und Mark Johnson.
Einzig mit Gitarrist Kelvyn Bell, den man auch von DEFUNKT kennt, werde ich nicht so richtig warm, aber das tut dem Gesamteindruck keinen Abbruch.
In den über 50 Minuten wechseln sich längere Songs mit kurzen, fast skizzenhaften Stücken ab und ergeben so ein ungeheuer vielseitiges, bunt schillerndes, urbanes Album, dass auch nach mehr als 35 Jahren keine Spur angestaubt klingt.
Ursprünglich 1986 beim Münchner Label JMT von Stefan Winter erschienen, gönnte ich mir, nachdem ich meine Vinylsammlung aus Platzgründen abgegeben hatte, das 2001 erschienene CD-Re-Release von Winter & Winter (jawohl, von Stefan Winter initiiert).
Und ich finde „On The Edge Of Tomorrow“ immer noch atemberaubend und visionär.
Steve Coleman, der in der breiten Öffentlichkeit eigentlich nie die ihm gebührende Wertschätzung erfahren hat, sollte er meiner Meinung nach in einer Reihe mit Namen wie Charlie Parker, John Coltrane oder Namensvetter Ornette Coleman stehen, ließ sich davon nie beirren und schuf sich mit M-Base seinen eigenen Klangkosmos, in dem natürlich auch die Namen Haynes, Wilson, aber auch Greg Osby oder Robin Eubanks auftauchen.
Ich zitiere mal Wikipedia: „Der Ausdruck „M-Base“ stammt von Steve Coleman und ist einerseits eine Abkürzung für „Macro Base“ (große, weite, starke Basis) und enthält andererseits mit dem Wort „Base“ eine Abkürzung für „Basic Array of Structured Extemporizations“ (grundlegende Anordnung strukturierter Improvisationen). Ziel dieses Konzeptes war eine – sehr weit verstandene – gemeinsame musikalische Sprache, mit der eigene aktuelle Erfahrungen auf kreative Weise ausgedrückt werden sollen und in der sowohl Improvisation als auch Strukturierung wesentlich sind.“
Wer sich nun dafür interessiert und das Ganze auch mal hören will - auf der M-Base-Website kann man nicht nur alle Veröffentlichungen Colemans anhören, sondern zu großen Teile auch herunterladen.
https://m-base.com/the-m-base-collective/
Audio-Video „Fat Lay Back“: https://www.youtube.com/watch?v=DpNb5h2y4uE
Audio-Video „Fire Revisited“: https://www.youtube.com/watch?v=uAokllrXvPE
Audio-Video „Change The Guard“: https://www.youtube.com/watch?v=iWyLDDL4WiM
Steve Coleman & Five Elements: On The Edge Of Tomorrow
Label: JMT VÖ: 1986/ Re-Release: Winter & Winter 2001
Laufzeit: 50:28 Minuten
1. Fire Revisited – 4:53
2.Fat Lay Back – 2:16
3.I-m Going Home – 3:03
4.It Is Time – 2:10
5.(In Order To Form) A more Perfect Union – 7:00
6.Little One I’ll Miss You – 4:37
7.T-T-Tim – 1:58
8.Metaphysical Phunktion – 4:53
9.Nine To Five – 1:44
10.Profile Man – 2:58
11.Stone Bone (Can’t Go Wrong) –6:45
12.Almost There – 2:10
13.Change The Guard – 6:01
Steve Coleman: Altsaxophon, Gesang
Graham Haynes: Trompete
Cassandra Wilson. Gesang
Geri Allen: Synthesizer
Kelvyn Bell. Gitarre, Gesang
Kevin Bruce Harris: Bass, Backgroundgesang
Marvin „Smitty“ Smith: Schlagzeug, Backgroundgesang
Mark Johnson: Schlagzeug