"Der Mann am Fenster" von Mattoti/Ambrosi (1992)

Thurstons Schwarzweiß-Comics, Kap.1

 
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"Der Mann am Fenster" von Mattoti/Ambrosi (1992)

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Gepostet: 17.11.2006 - 00:18 Uhr  ·  #1
Lorenzo Mattotti & Lilia Ambrosi - Der Mann am Fenster,
Edition Kunst der Comics 1992


Obwohl man natürlich nach dem Sinn fragen könnte, ein Werk, das vor fast 15 Jahren in einer Auflage von 3000 Stück veröffentlicht wurde, hier zu besprechen, gibt es einen einfachen Grund, es dennoch zu tun: Es ist eine ganz wunderbare Erzählung, streckenweise überwältigend, dabei eigen, reduziert und dem Verlagnamen (Kunst der Comics) 100% entsprechend. Vielleicht mein Lieblingscomic.

Ein Bildhauer steht im Zentrum der zeichnerisch überwiegend sanft dahinfließenden Geschichte. Luftig leicht ist der grafische Stil. Während manche Einzelbilder an Zeichnungen von Henri Matisse erinnern, wirken andere auf den ersten Blick in ihrem unbedingten Stilisierungswillen etwas unbeholfen. Linien fließen, verformen sich, man könnte sich Passagen gut als melancholischen Trickfilm vorstellen (osteuropäisch, mit Cello untermalt). Der Bildhauer schafft aus disparaten Schrottteilen fragile Plastiken, versucht in der Kunst Einheit zu schaffen, Dinge zusammenzubringen - während in seinem Leben vieles zu zerfallen scheint, seine langjährige Freundin hatte sich von ihm getrennt. Dies und der mögliche Grund (er konnte sich nicht zu einem gemeinsamen Kind entscheiden) wird nur angedeutet, addiert sich mit anderen Bildern/Metaphern zum Portrait eines sehr scheuen, (wie seine Plastiken) fragilen bis nahezu lebensuntauglichen Menschen, der lieber beobachtet als teilnimmt, eben der "Mann am Fenster", er scheint gegen Ende der Geschichte eine vorläufige Bestimmung gefunden zu haben, indem er einer langsam erblindenden Freundin, einer Gärtnerin, die Augen ersetzt, d.h. das was er sieht, für sie beschreibt. Deswegen also auch der Titel. Aber er ist auch der "Mann am Fenster", weil sein im Sousterrain befindliches Atelier von draußen gut eingesehen werden kann. (So sind viele Begriffe und Sätze in ihrer Mehrdeutigkeit - zumindest von mir - erst beim wiederholten Lesen zu erfassen).

Sehr schön, wie auch dieses Beobachtungsmotiv über eine Bildfolge ausgespielt wird, in der der Bildhauer in einem Tagebuch liest & die Linien dann so zerfließen und ineinandergreifen, dass er zugleich draußen auf einer Wiese spazierengeht und sich selber im Zug zusieht. Oder die Darstellung eines Liebesaktes, in der der sanfte Zeichenstil plötzlich eine ungeheure expressive Wucht erhält, die letztlich in der Abstraktion mündet. Wenn irgendwo in einem Comic eine "Fickszene" Kunst war, dann hier. Oder die Begegnung des Bildhauers mit dem grobschlächtigen, im Grunde genauso feinsinnigen, Kunstschänder, der die Perfektion bestimmter Kunstwerke nicht ertragen kann und - in beklemmender Nachvollziehbarkeit - erklärt, warum er sie zerstören muss.

Oder oder oder...

So wie in diesem Schwarzweiß-Comic das Weiß wichtiger ist als das Schwarz, leben die Zeichnungen und die Geschichte von Andeutungen, nichts ist hier knallig-plakativ (wie in manchen anderen Mattotti-Werken, der ja eigentlich als Meister der Farbe gilt). Im Grunde passiert auch nicht viel. Der Tod eines befreundeten Philosophen wird sehr beiläufig erwähnt. Und die dramatischste Passage ist vielleicht die, in der der Bildhauer systematisch seine Werke wieder in ihre Bestandteile zerlegt ("Ich arbeitete stundenlang, ohne aufzuhören...ich wollte mir diesen Alptraum vom Leibe halten. Schraube um Schraube, Draht um Draht, zerlegte ich ordentlich mein Alphabet. Dann setzte ich mich hin, als wäre ich am Meer. Ich war ruhig. Draußen, endlich, wurde es Tag".) Danach ist er kein Künstler mehr / will er keiner mehr sein.

Ich muss dazu sagen, dass ich eigentlich nie ein großer Mattotti-Fan war. Die (berechtigten) Preise für seine meist aufwendig-luxuriösen Bücher waren für mich nicht wirklich bezahlbar und die expressive Stilisierung à la Mattotti sowieso nie so ganz meine Sache.

In dem Gemeinschaftswerk mit Lilia Ambrosi (vielleicht wirklich das, was man so abschätzig einen "Frauencomic" nennen könnte) wird aber auf mehr als 160 Din-A-5 Seiten (im Hardcover) eine Erzählung entwickelt, die im besten Sinne des Wortes, von mir aus mit rollendem Reich-Ranicky R, "LITERRRATURR" ist.
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